Nur der Kontext, in dem sie stehen, weist sie als Engel aus: Die ersten Grabengel sind Männer ohne Flügel, so menschlich, dass sie von Sterblichen nicht zu unterscheiden sind. Gekleidet in eine Tunika mit Obergewand, die Füße in Sandalen geschnürt, erinnern sie an Darstellungen der Griechen in der Antike. Schließlich flügelbewehrt treten sie mit ausschließlich männlichen Zügen, oft gekleidet in priesterliche Gewänder an den starren Körpern, nur bis ins 13. Jahrhundert auf.
Danach kommt einiges in Bewegung. Weiblichere Züge, gar mädchenhaft Zierliches prägt die Engelgestalten ab Beginn des Quattrocento. Mit der Frührenaissance fallen die Hüllen der schweren Stoffbahnen, ärmellose Togen nehmen nun ihren Platz ein, die viel nackte Haut sehen lassen. Und es wird bunt: Im Mittelalter und der Frührenaissance verleihen Maler ihren Engeln farbige Flügel. Beispielhaft hier Jan van Eyck nur daumengroße Engel in der linken und rechten Ecke seines Bildes „Madonna am Brunnen“, denen der Maler regenbogenfarbige Flügel und ein prächtiges rotes und goldenes Gewand schenkt und ihre blonden langen Locken bändigt mit je einem goldenen Diadem. Kostbare Gewänder schmücken nun die Engel, verziert mit wehenden Bändern und Blumen. Eher an die Gestalt der Chloris (Flora) lassen sie denken, denn an Engel.
Musizierende Engel finden sich ein. Engel im Kindesalter und geflügelte Engelköpfe erweitern das Spektrum der Engeldarstellungen im 12. Jahrhundert. Putten, eine Kreuzung zwischen Kinderengeln und geflügelten Engelköpfen, betreten die Bühne der Engel in der italienischen Frührenaissance und im deutschen Barock. Die geflügelten nackten Knäblein sind schon seit der Antike als Liebesgötter, Amoretten, bekannt, treten in den christlichen Darstellungen jedoch erst mit Verspätung auf. Sie sind verspielt, unbekümmert, manchmal übermütig oder schelmisch, von großer Leichtigkeit und herzzerreißenden Emotionen. Untröstlich schluchzt der Putto an der Pieta von Ignaz Günther in der Stiftskirche St. Peter und Paul in Weyarn in das kunstvoll gefältelte Leichentuch Jesu. Zu Marias Füßen sitzend zeigt er unmittelbar den Schmerz, den Maria über den Tod ihres Sohnes fühlen muss, symbolisiert durch den langen Dolch in ihrer Brust. Die geflügelten Kinderköpfe unterhalb des Querbalkens des Kreuzes blicken seltsam unberührt von der Szene an der Trauergruppe vorbei.
Putten mit ihrer Speckröllchen versehenen Pausbäckigkeit konterkarieren die Strenge und Ernsthaftigkeit vieler erwachsener Engel und entschärfen ihre Unerbittlichkeit.
Leichtigkeit, Anmut, Eleganz, Verspieltheit sowie Sinnlichkeit, Erotik, Laszivität gar kennzeichnen das Zeitalter des Rokoko. Seinen Engeln verleihen Johann Baptist Straub und vor allem dessen Schüler Ignatz Günther Flügel, um die sie Betrachtenden den Wind streichen sehen können. Schwingen ganz eigener Art bewegen diese Engel, die da wesentlich mehr ihres Körpers sehen lassen, als eigentlich schicklich ist. Griechische Tuniken lassen nackte Beine und Arme sehen, zu Korsetten verharmloste Brustpanzer lenken den Blick auf freie Oberkörper. Die Fülle der kostbaren Stoffbahnen bauscht sich verführerisch um den männlichen Körper des Schutzengels, in dessen Gesichtszügen sich bei Günther stets die eines sinnlichen Jünglings mit denen eines leicht lasziven älteren Mannes mischen. Günthers Engel sind von dieser Welt, auch oder gerade weil ihre Flügel sie so gestenreich in der Schwebe halten. Die Gesten der Arme zitieren bis hinein in ihre Fingerspitzen die höchste Kunstform des Rokoko: den Tanz. Der Arm, der sich nach oben, dem Himmel zu, entgegenzustrecken scheint, vollführt vielmehr eine bogenförmige Geste des im Tanz erhobenen und nun wieder sinkenden Armes. Der ausgestreckte Finger deutet eben nicht empor zu Gott, sondern zitiert die gezierte Haltung der Finger im Tanz des Rokoko: Zeigefinger und kleiner Finger leicht erhoben über Mittel- und Ringfinger, alle Finger vom Handrücken aus abgesenkt. Günther selbst lenkt den Blick darauf, indem er die Zeigefinger seiner Engel extrem verlängert.
Marlen Wagner