Gestenspiel der Transfiguration

Gestenspiel in Raffaels Transfiguration | Gesture Play in Raffaels Transfiguration

Das Momentum der Geste in Kunst und Religion (6)

Transfiguration ist das letzte Gemälde Raffaels. Er arbeitete daran bis zu seinem Tode 1520. Die Museen des Vatikans sagen darüber, dass es „so etwas wie ein spirituelles Vermächtnis des Künstlers“ darstelle. Das Altarbild „schildere“ zwei Episoden der Evangelien. Es werde von der „Verklärung“ Jesus und von der Heilung eines epileptischen Jungen berichtet. Tatsächlich zeigt das Gemälde ein Momentum, das zwei Geschehnisse zeitlich und räumlich in einer Darstellung verdichtet. Dieses Momentum ist eine Unterweisung der Betrachtenden des Gemäldes in Weisen des Geistes, sich gestisch zu zeigen. Die Konfigurationen der Gesten, ihre Zusammenstellung und ihr Zusammenwirken im Bild, erweisen die Transfigurationen des Geistes, seine Wandlung in Erscheinungsformen.

Handauflegung und Handausstreckung haben in Religionen einen hohen Stellenwert. Sie allein als redebegleitende Gesten zu verstehen oder auch als Gesten, die dem Logos, dem Wort, Nachdruck verleihen ist fragwürdig. So wenig der Zauberstab nur der Erfüllungsgehilfe des Zauberspruchs ist um jemanden zu verzaubern, so wenig dient eine Geste lediglich zur Exekution der Imperative Gottes, der Ausführung seiner Anweisungen. Die Geste verkörpert den Geist, ohne den das Wort kraftlos bliebe. Es bliebe unhörbar ohne den Hauch, der es trägt und ihm seinen Atem verleiht. Der Geist benötigt nicht das Wort, um zu wehen. Aber ohne das Wort bleibt der Geist sprachlos.

Ilyas Basim Khuri Bazzi Rahib, Arabic manuscript of the Gospels (1684), Walters manuscript W.592, Jesus heals a demon possessed boy

Die Geste unterweist als Verbindung von Geist und Wort jene, die beides für ihr Eigentum halten. Durch Gesten werden sie daran erinnert, dass Nießbrauch von Besitz etwas anderes ist als Gebrauch eines geistigen Eigentums – oder selbstverständlich auch als Missbrauch geistlicher Macht. Den Geist und das Wort zu brauchen ist etwas anderes als sich beides anzueignen und – zeitgenössisch gesprochen – zu akkumulieren, zu kapitalisieren und instrumentalisieren, auszubeuten oder zu missbrauchen, zu verbrauchen oder zu vertilgen. Gesten sind Hinweis auf ein Brauchen des Geistes, das nicht in dem Zeichengebrauch derer aufgeht, die glauben über ihn zu verfügen.

Geist (πνεῦμα, spiritus, רוח) auch als Verursacher von Krankheit zu betrachten hat eine lange Tradition. Etwas ist durcheinander, etwas fehlt, etwas ist zuviel, etwas ist an Stellen, an die es nicht gehört. Heilen – als restitutio in integrum oder Apokatastasis verstanden soll eine gestörte Ganzheit und Ordnung wiederherstellen. Noch heute sagt man, dass Menschen von allen guten Geistern verlassen sind, wenn sie sich nicht erwartungsgemäß verhalten. Die Geschichte der Behandlung der Epilepsie zeigt, wie ein ungewöhnliches, „unnormales“ Verhalten Menschen verstört. Sie suchen eine Ursache dafür, besser noch Verursachende. An die Besessenheit durch einen bösen Geist zu glauben, ist eine einfache Erklärung. Sie macht den Leidenden zum Besitz eines Übel bewirkenden Geistes, der ihn für seine Zwecke gebraucht.

Pneuma (πνεῦμα), Geist also, der Schaum (ἀφρίζων) hervortreibe, sei fehl am Platze und müsse weichen. Dies ist die im Grunde einfache Botschaft des Apostels Markus (9, 12-29). Wie aber kann Geist veranlasst werden zu weichen? Warum tun sich die Anhänger Jesus so schwer damit, einen Besessenen zu heilen? Warum vermögen sie gegen solche Besitznahme so wenig auszurichten wie eine kleine Gruppe Juden, die sich den Legionen der römischen Besatzer konfrontiert findet? Es ist offenbar nicht immer leicht, den rechten Glauben zu finden, wenn die Gebrauchs-, Besitz- und Eigentumsverhältnisse strittig sind. Zumal Besessene oft andere der falschen Besessenheit zeihen; Enthusiasmierte andere des fehlgeleiteten Enthusiasmus bezichtigen; Begeisterte andere der Begeisterung für die falsche Sache verdächtigen; Fanatiker oft andere als gefährliche Fanatiker denunzieren. Wer besitzt also den richtigen Geist – und wer wird vom falschen besessen? Woran ist also der echte, der rechte, der richtige Glaube zu erkennen?

Das Markusevangelium gibt darauf zunächst eine überraschende Antwort: Glaube ist daran zu erkennen, dass er erfolgreich ist. Wer also erfolgreich glaubt, hat recht. Auch dies ist ein religiöses Erbe, das bis vor kurzem noch die Wissenschaft und die Medizin antraten: Wer erfolgreich heilt hat recht. Der schulterzuckend geäußerte Satz „Glaube versetzt Berge“ war eine gängige Erklärung für Erfolge, für die es wissenschaftlich keine Erklärung gab.

Die Beschreibung der Heilung des jungen Epileptikers im Markus-Evangelium beginnt genau damit: Die Gelehrten scheitern mit ihren Heilungsversuchen. Die Mittel, die ihnen zur Verfügung stehen, versagen. Ihr Glaube versagt. Und deshalb muss Jesus sie darauf verweisen, das ihr Gebrauch des Geistes einen anderen Brauch bezeugt als den, der erforderlich sei.

Der Bibeltext zeigt, wie Jesus auf das Unvermögen zum richtigen Glaubensgebrauch mit ziemlich unwirschen Worten reagiert: Wie oft soll ich es euch eigentlich noch sagen …: ὦ γενεὰ ἄπιστος, ἕως πότε πρὸς ὑμᾶς ἔσομαι ; ἕως πότε ἀνέξομαι ὑμῶν – O du ungläubiges Geschlecht, wie lange soll ich noch bei dir sein? Wie lange soll ich euch noch ertragen? (Markus 9, 19) Denn, so Jesus, es sei doch eigentlich ganz einfach: πάντα δυνατὰ τῷ πιστεύοντι – Glaubenden ist alles möglich. (Markus 9, 23). Ist dies nicht eine unglaubliche Feststellung? Zumal für ihre Adressaten, die sich ja selbst als Glaubende verstehen.

Zunächst also die Lage: Es gebe einen von einem unreinen (ακαθαρτω) Geist besessenen Jungen, der ihn hin und her reiße, mal ins Feuer und mal ins Wasser werfe, der taub und stumm mache (πνεῦμα ἄλαλον, κωφὸν, Markus 9, 17 und 25). Das einzige Mittel, ihn herauszulassen (ἐξελθεῖν), so Jesus, sei beten (τοῦτο τὸ γένος ἐν οὐδενὶ δύναται ἐξελθεῖν εἰ μὴ ἐν προσευχῇ) (Markus 9,28).

Das Altarbild Raffaels stellt die Vorgeschichte der Erlösung des Besessenen von seinem Leiden dar, als Momentum des Geistes in Transfiguration. Es erweist sich dabei, dass Geist von verschiedenen Agierenden verkörpert werden kann: hier nicht nur vom Auferstandenen Jesus (als soma pneumatikon) sondern auch von den geistbesessenen Menschen (als soma psychikon). (Aus der Perspektive des Paulus könnte man sagen: Raffaels Gemälde zeigt eine messianische Zeit, in der die Wiederkunft (παρουσία) des Christos, des Gesalbten, des Messias unmittelbar bevorsteht.)

Mit Blick auf die erhoffte Erlösung des Jungen von seinem Leiden (Markus 9, 12-29), von einer Besessenheit, die Matthäus (17, 15) auch „mondsüchtig“ nennt (σεληνιάζεται, lunaticus), setzt Raffael eine eindrucksvolle Verdichtung eines Gestenspiels der Geistheilung ins Bild. Die Gesten demonstrieren das Wirken des Geistes, oder genauer: Der Geist demonstriert in den Gesten seine Kraft, seine Möglichkeiten und seine Wandlungsfähigkeit. Es ist dieses „Zeichen“ (semeion), dass Gläubige und Betende erhoffen, wenn sie nicht um ein bestimmtes Zeichen bitten, sondern um einen Hinweis, ein Merkmal, eine Spur dafür, das sich im Gebet eine geistige Verbindung hergestellt hat.

In seiner Generalaudienz am 12.11.2008 spricht Benedikt XVI. zur Erwartung der Parusie, der Ankunft des Auferstandenen Christus, als Messias, in der Sicht Paulus. Er nennt es eine „Gegebenheit der paulinischen Lehre zur Eschatologie“ dass „Juden und Heiden“  in der „Universalität der Berufung zum Glauben“ vereint seien, und dass dies ein „Zeichen und Vorwegnahme der künftigen Wirklichkeit“ sei, in der das Nachher zu einem Vorher werde.

(Wer „Zeichen“ eher in der Tradition wissenschaflicher Zeichentheorien begreift, wird die Verwendung des Wortes durch Benedikt XVI. in diesem Kontext befremdlich finden. Das griechische Wort, das in Paulus Briefen, aber auch in den Evangelien und in der Apostelgeschichte auftaucht, wenn es um einen Hinweis auf die Gegenwart des Geistes geht, ist semeion (σημεῖον). Gesten bezeugen also die Wirksamkeit des Geistes. Insofern bezeichnen sie nur etwas für jemanden, wenn sie als Zeichen begriffen werden. Aber die Apostel in ihren Evangelien, wie auch Paulus seinen Briefen, wie selbst Benedikt XVI. in der zitierten Stelle verzichten auf ein Aufzeigen dessen worauf hingewiesen wird. Sie vermitteln keinen Begriff des Geschehens. Sie bringen seinen Geist zur Sprache. Immer wenn semeion als Signifikant, also als Bezeichnendes auftaucht, fehlt ein Aufzeigen dessen, was bezeichnet wird, also ein Signifikat. Wenn vom semeion die Rede ist, dann „kann man sich eigentlich nicht vorstellen“, was gemeint ist, wenn gesagt wird „Es gibt ein semeion.“  Dies ist bei einem körperlichen gestischen Hinweis ähnlich. Er bezeugt die Bewegung der Mitteilung als solcher, die Übermittlung eines Mitzuteilenden, nicht die Bezeichnung eines Mitgeteilten.)

Die Gesten in Raffaels Transfiguration sind Weisegesten. Sie zeigen, je nach von Raffael choreografierter Bewegung, sowohl das Besessensein der im Bild Agierenden durch Geist als auch Geist als ihren Besitz, als auch seinen Missbrauch. Es ist dies, was die Gesten als Weisen erweisen, Gesten des Weisens auf etwas, des Zurückweisens, der Weisung, der Unterweisung, des Verweisens, eines Anweisens oder Abweisens, die Haltung von Weisungsbefugten, der zur Weisung berufenen und unberufenen Weisen.

Robert Krokowski