Engel der Auferstehung

Sehen heißt glauben

Engel der Auferstehung, Heiliges Grab, Heiliges Grab, Kunstsammlungen Chemnitz, Schloßbergmuseum. Fotograf: Mirko, Lizenz Public domain, via Wikimedia Commons

Im Mittelalter heiße sehen glauben, lautet Uwe Fiedlers Conclusio des Videos, in dem er das in die Obhut des Chemnitzer Schloßbergmuseums gegebene heilige Grab als Figurentheater der biblischen Ostergeschichte beschreibt.

Das Heilige Grab aus der Chemnitzer Jakobikirche, geschaffen zwischen 1480 und 1520, steht seit Oktober 2001 nach umfangreichen Restaurationen wieder im Schloßbergmuseum. Die spätgotische Inszenierung aus Lindenholz ist einer chorlosen gotischen Kathedrale nachempfunden. Auf zwei Ebenen des transportablen Prunkschreins wird die Passion Christi (Passions- und Ostergeschichte) dargestellt. Der Sockel dient zur Aufnahme des Korpus des vom Kreuz genommenen Jesus.

Wächter, Heiliges Grab, Kunstsammlungen Chemnitz,
Schloßbergmuseum
. Fotograf: Mirko, Lizenz Public domain, via Wikimedia Commons

Auf der Sockelebene kauern und liegen die von Pontius Pilatus beauftragten Wächter, die verhindern sollen, dass sich die alte biblische Prophezeiung erfüllt, nach der einer aufersteht von den Toten und sich aus dem Grab erhebt.
„Denn du wirst mich nicht dem Tode überlassen und nicht zugeben, dass dein Heiliger die Grube sehe. Du tust mir kund den Weg zum Leben: Vor dir ist Freude die Fülle und Wonne zu deiner Rechten ewiglich.“ (Psalm 16,10–11)

Die Wachen wirken schlaftrunken, beschirmen sämtlich ihre Augen mit den Visieren ihrer Helme und/oder wenden sich vom Geschehen ab. Doch einer der Wächter hebt den Kopf, richtet seine Augen nach oben und schirmt sie mit der rechten Hand ab – gegen was? Es kann nur ein strahlendes Licht sein, in das er erwachend blickt, denn von Zeugen der Auferstehung berichtet das Neue Testament außer im apokryphen Petrusevangelium nicht. Das Matthäusevangelium aber berichtet von einem Engel, dessen
„(…) Gestalt war wie der Blitz und sein Gewand weiß wie der Schnee. Die Wachen aber erschraken aus Furcht vor ihm und wurden, als wären sie tot.“ (Matthäus 28,3–4)
Das Erscheinen des Engels lässt die Wächter erstarren.

Mutter Maria, Heiliges Grab, Kunstsammlungen Chemnitz,
Schloßbergmuseum
. Fotograf: Mirko, Lizenz Public domain, via Wikimedia Commons

Auf der zweiten Ebene des Prunkschreins stehen Vollplastiken auf Konsolen.
Auf der „Karfreitagsseite“ steht Joseph von Arimathäa, der die Erlaubnis Pontius Pilatus erbittet, den Leichnam Jesu zu begraben. Die Mutter Maria und wahrscheinlich Maria Klopa (auch Maria Kleophas/Kleophae) finden sich ebenfalls hier, trauernd als stünden sie noch bei dem Kreuz:
„Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala.“ (Johannes 19,25)

Nikodemus, Heiliges Grab, Kunstsammlungen Chemnitz,
Schloßbergmuseum
. Fotograf: Mirko, Lizenz Public domain, via Wikimedia Commons

Auf der zur Karfreitagsseite gehörenden Schmalseiten steht Nikodemus und präsentiert mit einer Geste seiner beiden nach vorn gestreckten und geöffneten Hände die Folterwerkzeuge Christi, die Dornenkrone und die drei Nägel. Die linke Hand Nikodemus sowie die Werkzeuge fehlen heute. In seinem Video übermittelt der Leiter des Schlossbergmuseums, Uwe Fiedler, diese Geste sehr anschaulich.

Maria Magdala, Heiliges Grab, Kunstsammlungen Chemnitz,
Schloßbergmuseum
. Fotograf: Mirko, Lizenz Public domain, via Wikimedia Commons

Maria Magdalena (Maria aus Magdala) steht auf der Osterseite, strahlend vor Freude über die Auferstehung Jesu, ebenso die Jünger Jesu, Petrus und Johannes Evangelista.

Engel der Auferstehung, Heiliges Grab, Kunstsammlungen Chemnitz,
Schloßbergmuseum
. Fotograf: Mirko, Lizenz Public domain, via Wikimedia Commons

Auf der zweiten Schmalseite steht auf seiner Konsole ein flügelloser Engel. Über seinen linken Arm hat er die Leichentücher Jesu drapiert, die rechte Hand liegt wie schützend darüber. Dies ist der Engel der Auferstehung, der da auf der „Osterseite“ des heiligen Grabes steht. Er trägt das leere Leichentuch und bedeutet damit: Das Grab ist leer – Jesus ist auferstanden.
Der „Engel des Herrn“ erscheint nur an dieser einen Stelle im Matthäusevangelium leibhaftig, sonst verkünden Engel ihre Botschaften in Träumen. Matthäus kleidet ihn in ein weißes Gewandt: „(…) sein Gewand weiß wie der Schnee“ (Mat 28,3) und zeichnet ihn damit eindeutig als eine zu Gott gehörende himmlische Gestalt aus, von Gott gesandt, der durch sie agiert.
Der Chemnitzer Engel der Auferstehung trägt ein goldenes Gewand, anknüpfend an Lukas 24,4, der seine himmlischen Boten in „leuchtende(n)/glänzende Gewänder“
hüllt. Niemand ist Zeuge der Auferstehung, denn erst der Engel rollt den Stein vor der Öffnung des Grabes weg. Er erscheint demnach nach der Auferstehung Jesu und zeigt den Frauen das leere Grab, das Jesus bereits verlassen hat. Auch Johannes schreibt dem auferstandenen Jesus die Eigenschaft zu, durch geschlossene Türen, durch Wände gehen zu können:
„Und nach acht Tagen waren seine Jünger abermals drinnen versammelt und Thomas war bei ihnen. Kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren, und tritt mitten unter sie und spricht: Friede sei mit euch!“ (Joh 20,26)
Der Engel ist Garant der Auferstehung und zeigt deshalb das leere Leichentuch als Bestätigung. Sehen heißt glauben.

Nicht ohne Grund ist das Gewand des Engels der Auferstehung weiß (oder leuchtend, golden), wird dadurch doch eine rückwärtsgewandte Analogie zwischen ihm und Jesus hergestellt.
Während der Transformation Jesu verändern sich dessen Gesicht und Kleidung:
„Und er wurde verwandelt vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne und seine Kleider wurden weiß wie das Licht.“ (Mt 17,1–9)
Mt 28 beschreibt das leuchtende Gesicht und das weiße Gewand des Engels der Auferstehung in derselben Abfolge, in der sich auch Jesu Transfiguration vollzieht.
Textstellen, die von der kommenden Auferstehung Jesu sprechen, schließen sich direkt an:
„Und als sie vom Berge hinabgingen, gebot ihnen Jesus und sprach: Ihr sollt von dieser Erscheinung niemandem sagen, bis der Menschensohn von den Toten auferstanden ist.“ (Mat 17,9).
Die Transfiguration verwandelt Jesus, den Menschensohn, in den Sohn Gottes durch eben seinen Vater:
„Als er noch so redete, siehe, da überschattete sie eine lichte Wolke. Und siehe, eine Stimme aus der Wolke sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören!“ (Mt 17,5).
Sie antizipiert seine spätere Auferstehung und deutet seinen durch Wände gehen könnenden Astralkörper bereits an. Die Ähnlichkeit des Engels der Auferstehung mit dem verwandelten Jesu ist demnach beabsichtigt, der Engel ein rückbezüglicher Verweis auf Jesu vor seiner Auferstehung. Jetzt, nachdem das Grab leer ist und Jesus auferstanden, setzt sich der Engel auf den eigenhändig weggerollten Stein, wie um zu betonen: Seht, hier sitze ich als Garant dafür, dass der Transfigurierte nun der Auferstandene ist. Sehen heißt glauben.

Engel der Auferstehung gibt es in der Kunst viele. Sie öffnen das Grab, flankieren den auferstandenen Jesus mit zum Gebet gefalteten Händen oder recken triumphierend einen Arm empor, mit ausgestreckter Hand und nach oben weisendem Zeigefinger – während der andere Arm meist schräg nach unten auf das offene Grab deutet. Der Chemnitzer Auferstehungsengel zeigt keine so dramatische Geste, auch keine der lauten Lobpreisung oder des stillen Gebets. Er steht ruhig auf seinem Sockel, lächelt zurückhaltend über die ihn Betrachtenden hinweg. Während Nikodemus auf der Karfreitagsseite die Marterwerkzeuge mit sprechender Geste präsentiert, hält der Engel das Tuch. Es liegt ruhig über seinem Arm, kein Luftzug bewegt seinen Faltenwurf. So wie der Engel ist es einfach nur. Das reicht völlig aus, die Auferstehung zu beglaubigen.

Als die Chemnitzer Jakobikirche nach der Reformation protestantisch wurde, entgeht das heilige Grab nur knapp der Zerstörung. Erhalten bleibt es nur aus „pädagogischer“ Einsicht, von der eine heute nicht mehr vorhandene Tafel 1668 kündete:
Wir ehren es nicht, sondern wir dulden es und stellen es auf diesen würdigen Platz, weil es dem ungelehrten Volk die heiligen Lehren predigt.“

Zwei Tage lang steht das Heilige Grab in der Zeit des Mittelalters zu Ostern in der Kirche und erzählt Gläubigen die Ostergeschichte. Am Ostersonntag wird der Schrein weggeräumt und die Kirchgänger sehen eine neue Szene: Der auferstandene Christus hält die Kreuzesfahne/Siegesfahne in Händen und ist in den roten Mantel des Herrschers gekleidet. Weitere Veranschaulichung bietet die katholische Kirche zur Unterweisung ihrer Gläubigen an: An Palmsonntag (10. April) reitet eine hölzerne Christusfigur auf einem Esel durch die Straßen und erinnert an den Einzug Jesu in Jerusalem. An Maria Himmelfahrt (15. August) wird noch in den 1960er Jahren im Ruhrgebiet eine Marienfigur auf einem Thron mit einer Sänfte durch die Straßen getragen, begleitet vorwiegend von Frauen und Kinder, die singend und betend Blumen auf den Weg streuen. An Weihnachten veranschaulicht die Krippe mit Josef und Maria, dem Christuskind, Ochs und Esel das biblische Geschehen.

Marlen Wagner