Die einladende Geste

Robert Krokowski | Installation Business Engel Office, Performance Garagencampus Chemnitz, 08.07.2022

Das Momentum der Geste in Kunst und Religion (13)

Die künstlerische, insbesondere performative Durcharbeitung von religiösen Gesten ist immer dem Risiko des gewollten oder ungewollten Missverstehens ausgesetzt – und dem Risiko des Selbstmissverständnisses. Denn bisweilen zeigt die genaue Betrachtung eines Kunstwerks oder einer Selbstbeschreibung der künstlerischen Tätigkeit, dass es einen Unterschied zwischen beabsichtigter und beobachteter Ausführung gibt.

Wenn Ulrike Lynn also mit Gedichten sakraler Art versucht, Worte als Sprachgesten in den liturgischen Kontext zu stellen, dann wirft das die Frage auf, ob die Gratwanderung zwischen Religion und Kunst, zwischen lyrischem Bekenntnis und bekennender Lyrik gelingen kann. Sind die Sprachgesten ihrer Gedichte, die die körperliche Berührung mit dem Göttlichen suchen, im Rahmen einer auditiven sakralen „Kulisse“, Teil des Mysteriums der Liturgie? Oder bekunden sie ein persönliches Drama im Versuch, Worte, die wie Hostien am Gaumen kleben, in Gedichte zu verwandeln, die nach Lösungen schmecken sollen?

In ihren Gestenperformances arbeitet Marlen Wagner mit Zeige- und Weisegesten. Ihr Gestengeschick stellt Weisungsgebaren ebenso in Frage wie das Mit-dem-Finger-auf-etwas-oder-jemand-zeigen. Gestus und Habitus jener, die sich beflissen als Richtungweisende gebärden und als Richtende gerieren, wird durch Kontextverschiebungen sichtbar und lesbar gemacht.

Libertad Esmeralda Iocco bringt in ihren Tanzperformances die Gesten von Engeln in Bewegung. In ihrer Werkstatt erarbeitet sie zusammen mit den Teilnehmenden gestische Bewegungsformen und Tänze. Was wird dabei aus den Gesten der Engel – und welche Begegnungen werden möglich, wenn die Verhältnisse zum Tanzen gebracht werden, die von den Beamten des Himmels gepriesen werden?

Vielleicht wird die Teilhabe an solchen Erfahrungen ein anderes Licht auf die Rokokoengel der Kirchenkunst werfen, in denen Gläubige einen Fingerzeig auf Gott finden, während dem Bildhauer selbst hier vielleicht die Darstellung eines weitaus weniger sakralen Rendezvous vorschwebt. Die genauere Betrachtung der „Schutzengel“ Ignaz Günthers, die hier die Stillstellung eines Rokokotanzes findet, macht auch diese Figurengruppe zu einem Vexierbild. Mag sein, dass der Engel gen Himmel zeigt. Sein ganzes Gebaren verweist doch auf ein anderes Kümmern um Menschen als es die Gläubigen sehen wollen. Eine Spur, die zu Frage führt, was es mit den Nephilim eigentlich auf sich hat.

Und wenn ich selbst jener Geste auf der Spur bin, mit der in der Kunst (im Tanz, bei Performances, in gestischen, bildlichen, schriftlichen und klanglichen Assemblagen und in poetischen Texten) zur Teilhabe am ästhetischen Prozess eingeladen wird, dann frage auch ich mich, warum das himmlische Geflügel im Traum so vielfältig in Erscheinung tritt: als Bruno Ganz, als Nephilim, als rote Schriftzeichen, als Luzifer-Amor, als Engel, der mit Jakob am Jabbok tanzt, als Klees Angelus Novus oder als Barbara, die mir mit ihrer Performance eine Deutung schenkte. Welche Botschaft die übermittelt die Pinnwand meiner Augenblicksammlung? Die roten Resonanzen zwischen Du und Du. Oder die Instrumente des Business Angels, der jene, die vom Erfolg träumen, mit den Funktionen eines Heimleuchters, den Gefahren einer Finanzspritze, einem zensierten Kursbuch, einem leeren Vorspiegel, einem spannungslosen Entangler und dem letzten Hemd konfrontiert, bevor er ihnen ein Erfolgszertifikat ausstellt.

Kunsttreibende, die sich auf den Glaubensbetrieb der Kirchen einlassen, setzen sich dem Sog der Religion aus – vor allem, wenn sie in den Himmel gelobt werden oder sich selbst in Sphären imaginieren, aus denen ihnen der Abgrund der Welt entgegengähnt. Wer kann den Versuchungen des Glaubens dauerhaft widerstehen, wenn scheinbar in jedem Augenblick die Gefahr des Fallens droht? Tatsächlich gehört aber die Beschwörung der Gefahr des Fallens aus dem Himmel oder des Sturzes in den Abgrund der Hölle zu den Szenarien derer, die keinesfalls den Gedanken an ein Entspringen zulassen wollen und dürfen. Was wohl die Engel treiben, wenn sie aufhören Minister oder Assistenten im von den Kirchen verwalteten Gottesstaat zu sein – und wenn die Kunst ihnen Asyl  gewährt hat und ihr Tun nicht mehr aus Verwaltungsakten und Lobpreis der bestehenden Ordnung besteht. Und was wohl aus Kunsttreibenden wird, wenn sie sich von Kirchen verbeamten lassen und sich der liturgische Gestus in persönlichen Habitus verwandelt? Und was wird aus der künstlerischen Praxis selbst, wenn das „unglaubliche Bedürfnis zu Glauben“ (Julia Kristeva) nicht mehr in Kunst sublimiert wird – sondern sich in religiösen Glauben verwandelt? Wäre dann noch eine poetische Vermittlung zwischen den Kulturen von Kunst-Projekträumen und Kirchengemeinden möglich – oder würde aus Poesie und Praxis ein mystisches Glaubensbekenntnis, würde Lyrik selbst zu einer Textform des Mysteriums, Tanz zu einer kultisch-rituellen Veranstaltung, Performance zum Teil des liturgischen Glaubensmanagements?

Gesten also können Mittler zwischen den Kulturen sein, sie können den Dialog zwischen Kunst und Religion in ästhetische Praxis übersetzen. Kunsttreibende verbindet mit Gläubigen eine Leidenschaft: Dass Leiden nicht das letzte Wort haben möge. Es ist eine der „Wetten“ der Kunst, zu der Kunsttreibende Gläubige einladen und immer schon eingeladen haben: Wie ist Freude auf dem Weg der Anerkennung, der Durcharbeitung und Sublimierung des Leidens möglich – ohne die Instrumentalisierung des Glaubens für eine umfassende Duldsamkeit zu betreiben und ohne die Institutionalisierung eines Mitleids, das droht, das leidende Individuum zu infantilisieren und zum Objekt der Sorge zu machen? Wie also ist, um in den Worten Paulus zu sprechen, die Erfahrung des Kairos möglich, im Verspüren der Parusie der schwachen messianischen Kraft?

„Das Leiden kann sich genauso wenig wie die Freude unmittelbar und ganz mitteilen: Das besagt im Grunde die nachtridentinische Kunst; es kann sich nur durch Transposition, Verschiebung, Ellipse oder Verdichtung, im Fleisch der Worte, Klänge, Bilder äußern. Bis zum Lachen über das eigene Leiden, bis zur Entsakralisierung des Leidens durch die Geste der Darstellung, die es anerkennt und zähmt.“ (Julia Kristeva, Dieses unglaubliche Bedürfnis zu glauben, 2014, S. 94)

Robert Krokowski