Das Momentum der Geste

Libertad Esmeralda Iocco | Der Nachmittag eines unendlichen Tages
Libertad Esmeralda Iocco | Der Nachmittag eines unendlichen Tages

Das Momentum der Geste in Kunst und Religion (12)

Das Momentum der Geste ist nicht ihr Bild. Als Form ist sie eher das, was sich in einer kurzen Filmsequenz zeigt, wenn sich das mediale Treiben zu einem Augenblick verdichtet. Wenn in der Dauer dieses Augenblicks das Gefilmte für die Betrachtenden die Augen aufschlägt und und sie in den Blick geraten, der ihnen mitteilt, das genau sie gemeint sind.

Ein Still eines Films kann das Momentum zum Punktum machen, wie es Roland Barthes beschrieb. Das Punctum zieht die Aufmerksamkeit der Betrachtenden auf sich. Sie spüren sich angesehen, wie Menschen, der in ihrem Tun innehalten und aufblicken, weil sie intensiv von einem anderen Menschen angeschaut werden.

Wie soll es möglich sein, in den Blick eines Filmmomentums zu geraten, oder von einem Kunstwerk gesehen zu werden, wenn es die Augen aufschlägt? Das klingt unglaubwürdig. Aber ist es glaubwürdiger, das es etwas gibt, was die Menschen immer, ewig und überall sieht, was überhaupt alles sieht?

Es besteht beim Erblicktwerden ein erheblicher Unterschied zwischen dem Moment der Kunst und der Ewigkeit der Religion. Kunst spricht die sie Kunsttreibenden deshalb an, weil sie Etwas in der Kunst angeht. Wenn ihnen dieses Etwas nichts sagt, dann machen sie in der Kunst einen Blinden Fleck.

Interesselose Langeweile entsteht genau dort, wo ein intensives Verweilen als inter esse möglich wäre. Die Zeit verstreicht dann wie beim Beobachten der Bewegung eines Sekundenzeigers auf einer analogen Uhr. Es ist wie das Warten auf jenen Moment, der schon verstrichen ist, das sich mit dem Warten auf Etwas Neues paart, das nicht nicht eintreten kann. Es ist wie das Verharren in einer Einöde an einer Bushaltestelle ohne Straße.

Wenn Kunst als erfüllter Augenblick erlebt wird, dann als Momentum, so lang oder so kurz es auch sein mag. Beim Verweilen in einem solchen Momentum kann sich die Gerichtetheit des Augenblicks zu einem Bild verdichten.

Das Punctum verbindet im Bild, quasi als Momentaufnahme des Momentums, seine beiden Seiten und erweist es zugleich als Augenweide und Blickfang. Es weckt, in der Sprache der Philosophie gesprochen, durch etwas Objekthaftes die Aufmerksamkeit des Subjekts. Es ist genau dieses Etwas, das die Kunsttreibenden zum Verweilen im Momentum der Kunst einlädt, es bringt ihr Interesse (im präzisen Sinn des Dazwischenseins) gleichsam „auf den Punkt“. Der Eindruck, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, könnte eine emotionale Folge dieses Verweilens im Momentum sein. Wie seine ästhetische Wahrnehmung die Erfahrung von Schönheit vermittelt.

Dass dies für alle Agenten der Kunst gilt, also auch sowohl für ihre Verfertiger als auch für die Kunst Betrachtenden, bedarf eigentlich nicht der Erwähnung.

Das Genießen des Augenblicks, in dem Gesten in einem Momentum auftauchen, sich um einen Attraktor formieren und wieder zum Medium werden, hängt ausschließlich davon ab, ob sich aus dem Zusammenwirken von Ding, Objekt, Wahrnehmung, Bewusstsein, Sujekt, Ungewusstem im Prozess der Sinngebung Emergenzen ergeben, die als gestisches Medium bezeichnet werden können. Wenn sich darin Gesten ausbilden, in einem Bild in Erscheinung treten, dann ist das Punctum jene Geste, die die Kunsttreibenden dazu einlädt, ins Bild einzutreten.

Was Walter Benjamin einst Dialektik im Stillstand nannte, was er als dialektisches Bild der Allegorie gegenüberstellte, bezeichnet die Mehrdeutigkeit des Bildes einer Geste, das in sich das Vorher (die Vergangenheit) und Nachher (die Jetztzeit) durchaus im hegelschen Sinne aufhebt, nämlich tilgt, aufbewahrt und zugleich auf eine andere Ebene hebt.

Das Vorher und Nachher also, dass sich im dialektischen Bild vermittelt, vergegenwärtigt sich für die Betrachtenden als Punctum. Im Sinne Roland Barthes handelt sich nur um ein Punctum, wenn es die von ihm Angesprochenen im Grunde „verwundet“, also verändert, mit Walter Benjamin könnte man sagen: Zur Wahrnehmung des Punctums eines Bildes gehört die Erfahrung, wie vom Blitz getroffen zu sein. Und zugleich von etwa gestreift zu werden, was von der Möglichkeit der Erlösung kündet.

Könnte Kunst also tatsächlich ermöglichen oder gar bewirken, woran der Glaube glaubt? Dem Messias zu begegnen, von ihm berührt zu werden, und sei es auch nur in Form eines Hauchs jener schwachen messianischen Kraft, die beim Erleben eines Kunstmoments Hamut auftauchen lässt, also jene besondere „Gänsehaut“ erzeugt, deren Braille lesbar macht, was in dem verbirgt, was unsichtbar bleibt, weil das Punctum des Bildes seine Wahrnehmung blendet wie ein Blitz?

Könnte es sein, dass die Kirchen deshalb die Nähe zu Kunsttreibenden suchten, weil sie glaubten, es sei möglich, das Punctum des Glaubens ins Bild zu setzen? Und was aber, wenn Kunsttreibende gar nicht anders können, als den Gestus des Imperativs in eine Geste der Einladung zu verwandeln – und zwar der Einladung zur Teilhabe am Treiben der Kunst?

Die Beantwortung dieser Fragen ist für Kunsttreibende, die Gäste der Kirchen sind, oder gar Auftragnehmer im Grunde unmöglich. Es sei denn, dass Glaubentreibende von Kunsttreibenden keine Geste des Glaubens erwarten, sondern z. B. eine des Tanzes. Oder aber, dass Kunsttreibende eine Geste in ein Vexierbild setzen, das den Glaubenden erlaubt, eine Glaubensgeste zu sehen, den Kunsttreibenden eine Tanzbewegung.

Robert Krokowski