Transfiguration

Maya Deren, Ritual in transfigured time, 1945, Still of a Momentum

Das Momentum der Geste in Kunst und Religion (1)

Eine Nonne betritt einen Raum, in dem viele Menschen in munterer Gesellschaft einander begegnen. Eine Fülle von Gesten ist zu beobachten. Vielfältige Handbewegungen grüßen und begrüßen, laden ein, stellen vor, bieten an, lehnen ab, greifen zu, weisen zurück. Einander Gegenüberstehende werden durch Gesten getrennt, Entfernte werden zusammengeführt. Die Mitwirkenden in diesem Partytreiben zeigen auf etwas und zeigen etwas, begleiten mit ein- und ausladenden Gesten Schulterzucken und Kopfwiegen, unterstreichen mit den Händen wedelnd herzhaftes Lachen und mit sich öffnenden Fingern fragende Blicke.

Die Hände fassen in die Luft und greifen etwas aus der Luft. Daumen werden gehoben und Finger deuten auf Hände, diese stechen, stützen, streifen Arme und Schultern, fassen andere Hände, und lassen los, streicheln, besänftigen, öffnen und schließen sich. In einem unsichtbaren Strom, der der Gesellschaft einen pulsierenden Rhythmus verleiht, übertragen sich die Gesten auf die Körper. Die Gesellschaft kommt in Schwung.

Die Nonne betritt den Raum. Im schwarzen Habit, ein großes Kreuz auf der Brust, trägt sie einen Strauß weiße Zantedeschien im Arm, Totenblumen. Mit der anderen Hand macht sie eine Geste und im selben Augenblick erstarrt die Gesellschaft. Plötzlich frieren alle Bewegungen ein.Es handelt es sich um eine Filmszene. Maya Deren hat ihren Kurzfilm Ritual in transfigured time 1946 gedreht. Die Arbeiten der Künstlerin erkunden formal und inhaltlich immer wieder die Darstellungsmöglichkeiten manifester Trauminhalte. Bewegung, Gesten und Tanz, Rythmus und Wiederholung werden filmisch durchgearbeitet. Und immer wieder dreht es sich dabei inhaltlich auch um die Begegnung von Kunst mit Religion und Glaubenswirklichkeiten.

Eine Nonne und eine Blume tauchen schon in ihrem ersten Film aus dem Jahr 1943 auf, Meshes of the afternoon. Beide Filme zeigen, wie Glaubensinhalte darstellerisch durchgearbeitet werden. Und sie zeigen, wie in künstlerischer Filmarbeit Maya Deren sublimiert, was andere vielleicht in den Gottesdienst geführt hätte, oder ins Kloster oder zur mystischen Fühlungnahme mit Jesus im Engelstanz. Und dass in Derens Filmen immer wieder auftauchende Schach, bringt mit seinen Zügen jene „Moves“ ins Spiel, die die Figuren in At land (1944) sich selbsttätig bewegen lassen.

Es ist interessant der Nonne in Maya Derens Film Ritual in transfigured time durch die Abendgesellschaft zu folgen, in der sich abwechselnde und ineinander übergehende Gesten eines unverbindlichen Partyrituals immer mehr in einen Reigen umeinander sich drehender Paare verwandeln. Eine junge Frau erfährt durch diesen Gesellschaftstanz gleitend die traumhafte Verwandlung von einer Nonne in eine Tänzerin, muss aber am Ende doch erkennen, dass auch der profane Ausdruckstanz im Gestus künstlerischer und choreografischer Konventionen erstarren kann.

So stellt der Film das Leiden an ritualisierten Gesten dar – und zugleich die Möglichkeit ihrer leidenschaftlichen Verflüssigung im Tanz. Und er zeigt, dass Habitus, die in Gesten verkörperten Konventionen, nicht allein in religiösen Ritualen zum Zuge kommt. Allerdings zeigen Maya Derens Filme auch, wie Glaubensinhalte künstlerisch aufgelöst werden, buchstäblich analysiert. Momente des Glaubens werden anders sichtbar gemacht, als der Glaube selbst es tut. Die innere Zeitwahrnehmung des Glaubens, die in jedem Moment die Ewigkeit sucht, wird mit der filmischen Wahrnehmung des Momentums konfrontiert, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgehoben sind. Es ist die Zeitlupe des Films, die das Momentum sichtbar macht.

Es ist hochgradig interessant, dass Maya Deren im Momentum des Films eine feminine Zeit sieht, eine erfüllte Zeit, die den Eintritt von etwas Zukünftigem ahnbar macht –  wie eine ausstehende Geburt, wie ein neuer Ursprung. Derartiges kennen Religionen auch, nämlich hinsichtlich der Frage, wie der Messias in die Welt kommt – und was die messianische Zeit von der messbar gleichförmig ablaufenden Zeit unterscheidet.

Die Zeitlupe des Films, auf das Still zuströmend, macht das Pulsieren des Geschehens wahrnehmbar, meint Maya Deren. Darin zeitigt sich ein feminines, weibliches Erleben eines Rhythmischen, eines Werdens im Prozess – wie im Tanz.

Tanzende kennen die Schwierigkeit, die Männer damit haben, die Zeit eines Tanzes nicht einfach nur hinter sich zu bringen, nicht Zeitraffer zu sein, nicht zu eilen, zu hasten, nicht vor der Zeit zu sein, zu schnell. „Lass dir Zeit …“. Wer die Einladung der Geste der Hand, die sich auf den Arm und die Schulter legt, zum Führen geführt zu werden annimmt, dem wird das Momentum eines Tanzes geschenkt. Denn was das Momentum im Film ist, das ist der Tanz in der Bewegung durch die Zeit.

Was aber geschieht, wenn Tanz durch Gläubige zum Bestandteil eines religiösen Rituals gemacht wird, zum Beispiel in der Liturgie des Gottesdienstes der katholischen Kirche?

Robert Krokowski