Das Momentum der Geste in Kunst und Religion (8)
Kirchen und Glaubensgemeinschaften haben in ihrer Geschichte ein sehr empfindliches Verhältnis zum Tanz. Als sei nicht nur die Möglichkeit sinnlicher Verführung gefährlich, sondern vor allem das, was Tanzen mit dem Geist macht, wenn es an seinen Triebgrund rührt.
Tanzen als Bewegung und Gestisches als ihr Momentum ermöglichen ästhetische und kommunikative Erfahrungen. Diese können Glaubensgesten verflüssigen und auflösen. Ist in kirchlichen Verdikten gegenüber dem Tanz diese Sorge zu spüren?
Die Abwehr des Tanzes als performativer Kunstpraxis ist allerdings in zeitgenössischer Religionsausübung seltener anzutreffen, als zu Zeiten, in denen körperliche Bewegung lediglich im Gebet akzeptiert war: beim gestischen Kreuzschlagen, schaukelnden Handwippen, beim Knien. Tanz als Teil der Liturgie scheint heute im Gegenteil gar willkommen. Selbst kunsttreibende Tanzende werden als Gäste in Kirchen eingeladen und als Bereicherung des religiösen Lebens angesehen, nicht als Bedrohung. Es stellt sich also die Frage, warum das „profane“ Tanzen nicht mehr als verwerflich angesehen wird, sondern – wie andere künstlerische Praktiken – als Gott Ehre erweisend und den Menschen Wohlgefallen bereitend, wie es die Engel verkünden.
Kann es sein, das tatsächlich sich Liturgie so sehr einer Praxis der Kunst annähern kann, dass Kunsttreibende und Gläubige nach denselben Regeln spielen? Der katholische Priester Romano Guardini schreibt in seinem Traktat Vom Geist der Liturgie (1918), dass Liturgie üben bedeute, vor Gott zu einem lebenden Kunstwerk zu werden. Liturgie, so Guardini, sei selbst zweckfreies Spiel, das – wie ein Kunstwerk – den einzigen Sinn habe, da zu sein. In ihm würden die Glaubenden sich entschließen vor Gott zu spielen, so wie David es tat, als er vor der Bundeslade tanzte. (Guardini, Romano, Vom Geist der Liturgie, 1997, 66–67)
Jedoch scheinen solche Annäherungen an den Tanz und an jenes Momentum der Geste in der Kunst, das nicht lediglich liturgisches Zeichen ist, Ausdruck eines Wunschdenkens zu sein. Könnte sich die Kirche in Übereinstimmung mit der Kirchenlehre tatsächlich einer Kunst öffnen, die nicht im Dienste des Glaubens und der Kirche stünde? „Oh Mensch, lerne tanzen, sonst wissen die Engel im Himmel mit dir nichts anzufangen.“ Gerne wird dieser Satz Augustinus zugeschrieben – von Glaubenden, die auch in der katholischen Kirche das Tanzen als Teil der Liturgie etabliert sehen möchten. Allerdings: Dieser Satz findet sich bei Augustinus nicht. Schaut man sich genauer die Haltung des Kirchenlehrers und Bischofs an, so wird man feststellen müssen, dass auch er die Ansicht vertrat, dass der Tanz aus dem Kult und aus allem, was zum Kult gehört, fernzuhalten, und, wo noch vorhanden, zu eliminieren sei. Es ist also so einfach nicht, eine katholisch abgesegnete Begegnung von Gläubigen mit Tanz aus der Tradition dieser Kirche selbst abzuleiten.
Gesten gehen aus einer Bewegung hervor. Bewegung ist, wo es Hin und Her springt. Wo es drunter und drüber geht, auf und nieder. Wo es schwankt, schaukelt, wippt. Wo es tanzt. Wo es rhytmisch fließt, pulsiert, sich zusammenzieht und dehnt und streckt. Es bewegt sich also. Und dann bewegt es sich als Etwas. Bewegungen und Gesten Betender jedoch entstehen in der Regel nicht aus einem spontanen Bewegungsfluss. Ihre Bewegungen sind an Anweisungen, an Imperative geknüpft, bestimmte Formen von Gesten nachzuahmen. Die Frage ist, ob nicht in allen Religionen die leichte und freie Entfaltung von tänzerischen Gesten letztlich in die Knie gezwungen werden muss, um die Notwendigkeit des Glaubens schmerzhaft zu erfahren – wie bei jener Wallfahrt, bei denen die Gläubigen auf bloßen Knien über eine steinerne Treppe zu einem Altar rutschen.
Glaubensverkünder machen in der Liturgie aus künstlerischem gestikulativem Treiben (gestae agere lege arte) bedeutungsvolle Glaubensgesten (gestae facere lege religio). Die Folge ist, dass Gesten nicht mehr als Momentum wahrgenommen und erlebt werden, als Geschenk (donum) eines verweilenden Augenblicks, als Dauer einer innehaltenden Bewegung. Gesten werden als göttliches Faktum (Gemachtes) aufgefasst – als seien sie vom Himmel in die Welt gefallene Epiphanien, Erscheinungen, in denen sich das Wort Gottes auf allegorischer Weise offenbart. Und sie werden in der Liturgie als heiliges Datum (Gegebens) praktiziert, zur Beglaubigung der symbolischen Ausführung der Bedeutung, die sie bezeichnen.
Deshalb vermag die liturgische Geste „in Ewigkeit“ aufzuzeigen, in wessen Namen der Gläubige spricht. Sie beansprucht ewige Geltung. Damit wird unerheblich, dass Glaubensinhalte in Zeit und Geschichte begriffen werden und sich wandeln. Die liturgische Geste ist das, was den Glauben zeitlos bezeichnet und im Bewusstsein der Gläubigen genau die Bedeutungen zeitigt, die nach kirchlicher Lehrmeinung zum Zeitpunkt des Gebets zeitgemäß sind. Liegt darin ein Grund für die Warnung, die die Religionsgeschichte durchzieht, vor dem Tanz als einer sich nicht ziemenden, ungehörigen Praxis?
Besteht tatsächlich, wenn im Medium des Gestischen die Geistesgegenwart spürbar, sichtbar, hörbar, schmeckbar, riechbar ist, die Gefahr, den Glauben an den Glauben zu verlieren – und sich zu verlieren in der Auflösung formeller Gesten, etwa im Tanz, und sich dann neu zu finden – anderswo? Welche Folgen hätte es, wenn der liturgisch personifizierte Glaube sich in einen persönlichen künstlerischen Spielraum verwandeln würde?
Robert Krokowski