Siegesgöttin oder Engel?

Theaterplatz und Siegesdenkmal, Chemnitz 1911; Postkarte Nr. 13524; Hrsg. Brück & Sohn Kunstverlag, Meißen; Lizenz CC0 1.0 Universal, via Wikimedia Commons

Geflügelt ist sie, die Victoria, die hochaufgerichtet auf der Spitze der ionischen Säule des Kriegsdenkmals in Chemnitz steht. Der Bildhauer Anton Theodor Händler fertigt nach dem Entwurf des Architekten Gustav Rumpel, Landbauinspektor in Chemnitz, zum Gedenken an die getöteten Soldaten des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/1871 ein Denkmal. An der Kreuzung Theaterstraße/Äußere/Innere Klosterstraße, in einer kleinen Parkanlage, blickt die Chemnitzer Victoria über den Theaterplatz. In der linken Hand hält sie als Göttin des Friedens einen Palmzweig, in der rechten Hand als Göttin des Sieges den Lorbeerkranz. Zwiegesichtig wie jede ihrer Art ist sie von 1875 bis zu ihrer Zerstörung 1947 Zeugin des menschlichen Treibens auf dem Theaterplatz und den ihn umgebenden Straßen.
Harmlose profane Engel sind sie nicht, die da als Victoria ihren Platz auf Kriegsdenkmälern finden. Davon zeugen häufig die Materialien, aus denen sie hergestellt werden. In Chemnitz verwendet Anton Theodor Händler neben dem heimischen Pirnaischen Sandstein auch französisches Geschützmetall. In Berlin steht die Göttin auf den vergoldeten Kanonenrohren dreier Kriege. Kriegsdenkmäler also, auch wenn sie Siegessäule, Siegerdenkmal oder Mahnmal genannt werden. Über den Namen der Getöteten ragt sie auf, die Victoria, und hebt den Lorbeerkranz in die Lüfte.
Doch ungewöhnlich verhalten präsentiert die Chemnitzer Siegesgöttin den Siegerkranz: Schräg nach unten gehalten sieht es so aus, als wolle sie die Stadt zu ihren Füßen damit krönen.

Seit der klassischen Antike gilt Lorbeer als Symbol des Sieges und des Ruhms – Palmwedel als Symbol des Friedens und des Sieges. Überein stimmen beide im Symbol des Sieges.
Triumph ob des Sieges über den Feind ist immer auch das Triumphieren über die besiegten Menschen. Es haben sich gelohnt, der Kampf, der Tod und der Hass. Der Palmzweig in der anderen Hand geht beinahe unter auf den fotografischen Darstellungen, denn eng am Körper gehalten verschmilzt er fast mit dem Gewand.

Sehr tief mit nur einer Pfahlwurzel ohne Seitenwurzel wurzeln Palmen oder aber flach mit immer neuen, etwas gleich dicken Wurzeln, die nach ihrem Absterben durch neue ersetzt werden. Beide Arten ermöglichen es dieser Pflanzenart fest in der Erde verwurzelt zu sein, so wie im jüdischen Glauben auch die Gerechten verwurzelt sind.
Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum, er wird wachsen wie eine Zeder auf dem Libanon (Psalm 92,13).
Deshalb erinnert das Laubhüttenfest nicht nur an die entbehrungsreiche Zeit, in der Juden nach dem Auszug aus Ägypten in mit Palmwedeln gedeckten Hütten sowie Zelten lebten, sondern auch an die Freude und den Jubel über das Ende der Knechtschaft. Und an die Hoffnung, die das jüdische Volk in den Messias setzt, der als vermeintlicher König in Jerusalem Einzug hält und mit Palmzweigen als heimkehrender Sieger (vgl. 1. Makkabäer 13,51) empfangen wird.
Als Zeichen des Lebens, des Sieges über den Tod und als Symbol des Friedens werden Palmzweige an Palmsonntag geweiht und in christlichen Prozessionen am Sonntag vor Ostern mitgeführt. Papst Benedikt XVI. weist darauf hin, dass die Wahl des Reittieres, ein Esel, auf die Gewaltlosigkeit und Friedfertigkeit Jesu und die seines kommenden Königreiches verweist. Nicht auf einem Streitwagen, einem Kriegswagen und mit schweren Waffen zieht er ein nach Jerusalem, wohl aber auf dem Reittier armer Leute. Nicht durch politische oder militärische Macht will er Israel von der römischen Besatzung befreien.

Ist die Victoria nun ein Engel oder nicht? Sind es einzig ihre Flügel, die sie in die Nähe von Engeln rückt? In der Thora, im Alten und im Neuen Testament haben Engel keine Flügel. Einzige Ausnahme ist der Engel in der Offenbarung, dessen Flügel zwar nicht beschrieben werden, jedoch seine Fähigkeit zu fliegen:
Und ich sah einen anderen Engel hoch oben am Himmel fliegen, der das ewige Evangelium hatte, um es denen zu verkündigen, die auf der Erde ansässig sind, und jeder Nation und jedem Stamm und jeder Sprache und jedem Volk … (Offenbarung 14,6).

Die Cherubim jedoch werden als geflügelte Wesen beschrieben, z. B. bei der Bauanleitung der Bundeslade:
Und die Cherubim sollen die Flügel nach oben ausbreiten, die Deckplatte mit ihren Flügeln überdeckend, während ihre Gesichter einander zu(gewandt) sind. (2 Mose 25,20)
oder in Hesekiels Vision, inmitten von Sturmwind, Wolke und Feuer:
Und aus seiner Mitte hervor (erschien) die Gestalt von vier lebenden Wesen; und dies war ihr Aussehen: Die Gestalt eines Menschen hatten sie. Und vier Gesichter hatte jedes, und vier Flügel hatte jedes von ihnen. Und ihre Beine waren gerade Beine und ihre Fußsohlen wie die Fußsohle eines Kalbes; und sie funkelten wie das Funkeln von blanker Bronze. Und Menschenhände waren unter ihren Flügeln an ihren vier Seiten; und die vier hatten ihre Gesichter und ihre Flügel. Ihre Flügel berührten sich, einer mit dem anderen; sie wandten sich nicht um, wenn sie gingen; sie gingen, ein jedes gerade vor sich hin. (Hesekiel 1,5-9)

Seraphim haben eine einzige Aufgabe: Gott zu lobpreisen und anzubeten.
Und die vier lebendigen Wesen hatten, eines wie das andere, je sechs Flügel und ⟨sind⟩ ringsum und inwendig voller Augen, und sie hören Tag und Nacht nicht auf zu sagen: Heilig, heilig, heilig, Herr, Gott, Allmächtiger, der war und der ist und der kommt! (Offenbarung 4,8)

Doch ebenso wie die Flügel der Seraphim dienen die der Cherubim nicht zum Fliegen, sondern der Verherrlichung Gottes.
Seraphim standen über ihm. Jeder von ihnen hatte sechs Flügel: Mit zweien bedeckte er sein Gesicht, mit zweien bedeckte er seine Füße, und mit zweien flog er. Und einer rief dem andern zu und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der HERR der Heerscharen! Die ganze Erde ist erfüllt mit seiner Herrlichkeit! (Jesaja 6,1-3)

Gründet das, was wir uns heute unter „Engel“ vorstellen, eher auf der griechischen und römischen Mythologie, wo die Siegesgöttinnen Nike und Victoria zu Hause sind? Die griechische Friedensgöttin Eirene muss meist ohne Flügel auskommen …

Marlen Wagner