Eine Mondsichel ziert das Haupt der Nyx, der „Nacht“, die ihren Umhang sanft um den schlafenden Knaben an ihrem Knien breitet, während dieser die Finger ihrer linken Hand leicht umfasst hält. Beider Köpfe neigen sich etwas zur linken Seite, dorthin, wo ein geflügelter Jüngling in seine gehöhlte Hand flüstert. Einzig ihm, dem schlafenden Knaben, raunt Morpheus zu. Gerade erst eingetroffen scheint der Traumbote zu sein, denn noch hat er seine Flügel nicht abgelegt, noch sind beide – Knabe und Bote – nicht vollständig im Land der Träume.
Der Bote des Traums scheint sich zu vergewissern, dass der junge Mensch auch tatsächlich in Schlaf gefallen ist. Leitet der Arm der Göttin seine leise Ansprache zum Ohr des Knaben, einer Flüstergalerie gleich? Wird sie ihre Hand aus der des Schlafenden lösen, sobald der Schlaf tief genug ist, um den Übergang zum Land der Träume zu ermöglichen?
Nach Homer ist das Land der Träume ein Teil der Unterwelt:
Und sie gingen des Ozeans Flut, den leukadischen Felsen,
Gingen das Sonnentor und das Land der Träume vorüber
Und erreichten nun bald die graue Asphodeloswiese,
Wo die Seelen wohnen, die Luftgebilde der Toten.
(Homer, Odyssee 24, 10-14)
Nur dort können Menschen die Traumbotschaften empfangen. Sie wechseln von der materiellen Welt in die des Schlafes, in der die Ereignisse des Traums nicht als innerer psychischer Prozess, sondern als Erlebnisse in einer anderen Welt real wahrgenommen werden. Hier sind Interaktion mit dem Traumboten möglich, Handlung sowie Sprechen. Ist die Botschaft übermittelt, Trost gespendet und empfangen worden, Glück empfunden, verlässt der Bote den schlafenden Menschen.
Nachdem er seinen Auftrag erfüllt und das Land des Traums verlassen hat, sammelt er seine Flügel wieder ein und fliegt zu seiner Höhle zurück. Fraglich ist jedoch, ob wirklich von einem Ablegen der Flügel gesprochen werden kann, ob sich nicht vielmehr seine Gestalt, zu der die Flügel zwingend gehören, im Ganzen wandelt. Oder steht das Ablegen der Flügel für das Zurücklassen der eigenen und das Aufgehen in der angenommenen Gestalt? Welches ist dann seine ureigene Gestalt? Die eines geflügelten Dämons, der als idealer Jüngling erscheint, sobald er sich im Blick wähnt? Es ist ein wenig so, wie bei der Frage, welche Farbe ein Chamäleon habe, wenn es sich in einer Umgebung befindet, in der es nichts gibt, an das es sich anpassen kann.
Morpheus und seine Brüder Phobetor und Phantasos, sind die Söhne von Nyx, der Nacht.
Nyx die Nacht aber gebar den Moros das schreckliche Verhängnis
Ker die dunkle Raffende · Thanatos den Tod · Hypnos den Schlaf
und die vielen Träume der Oneíren – ohne dass ihr ein Gott beigewohnt hätte.
die finstere Nacht gebar auch Momos den Zweifel Oizys die schmerzende Not
(Hesiod Theogonie 208-210, Übersetzung Raoul Schrott)
Die vaterlosen Brüder sind Traumgötter, sie fungieren als Mittler zwischen Menschen und Göttern. Ihre Botschaften gelten meist Herrschern und Königen, sind jedoch oft trügerisch. Einst erbat Apollon von Zeus die Gabe der unfehlbaren Prophetie, die ihn, einmal erhalten, so arrogant machte, dass Zeus, um ihm Einhalt zu gebieten, die Wahrträume erschuf. Nun konnten die Menschen, ohne an Apollon appellieren zu müssen, eigenmächtig die Zukunft in ihren Träumen schauen. Apollon, entmachtet, flehte Zeus an, die Prophetie möge nicht gänzlich durch Wahrträume ersetzbar sein. Zeus, der Apollons Entschuldigung annahm, schickte nun falsche Träume zu den Menschen, die sich daraufhin erneut Apollon zuwandten.
Denn es sind, wie man sagt, zwei Pforten der nichtigen Träume:
Eine von Elfenbein, die andre von Horne gebauet.
Welche nun aus der Pforte von Elfenbeine herausgehn,
Diese täuschen den Geist durch lügenhafte Verkündung;
Andere, die aus der Pforte von glattem Horne hervorgehn,
Deuten Wirklichkeit an, wenn sie den Menschen erscheinen
Odyssee XIX, 560ff., Übersetzung: Johann Heinrich Voß
In den erweiterten Chemnitzer Schlossteichanlagen stehen die Figurengruppen „Vier Tageszeiten“ nach den prämierten Entwürfen von Johannes Schilling. Der deutsch-böhmische Bildhauer Franz Schwarz führte die Skulpturen aus, die 1868 und 1871 am nördlichen Aufgang der Brühlschen Terrasse in Dresden aufgestellt werden. 1898 gehen sie als Geschenk König Alberts an die Stadt Chemnitz , müssen dort ihren Standort wechseln, bis sie 1936 vor der Brunnenanlage im Chemnitzer Schlossteichpark ihren endgültigen Platz finden. Sie sind sämtlich in beklagenswertem Zustand: Ihre nachträgliche Vergoldung, die vielfachen Widerspruch hervorrief, ist an vielen Stellen abgeplatzt und erfüllt ihren Zweck als Schutz gegen Verwitterung in keiner Weise. Schwarze Flecken verunstalten die Oberflächen und verzerren die Gesichtsausdrücke der Gestalten. Nach zwei Restaurierungen 2010/11 und 2017 tragen sie nun eine Schicht aus Silikonharz, die die Figuren nicht nur schützt, sondern auch die ursprüngliche Sandsteinoberfläche imitiert.
Marlen Wagner