Gebetsgesten 

Banier, Antoine; Le Mascrier, Jean-Baptiste; Picart, Bernard  [Ill.] Histoire générale des cérémonies, moeurs et coutumes religieuses de tous les peuples du monde: représentées en 243 figures (Band 1) — Paris, 1741. p. 1

Das Momentum der Geste in Kunst und Religion (2)

Was setzt Gläubige in ihrem religiösen Tun buchstäblich in Bewegung, körperlich und geistig? Was motiviert sie zum Gebet? Was bewirkt, dass sie sich beim Beten in einer bestimmten Weise bewegen? Und warum sind dann manche Regungen und Erregungen demjenigen wohlgefällig, als dessen Agenten die Engel in Erscheinung treten – und andere nicht? Was also geschieht beim Beten?

Es ist oft nicht einfach, mit den Regeln, Botschaften, Gesten und Agenten des Glaubens. Dass es sich für Kinder beim Beten nicht geziemt, auf Kirchenbänken herumzuzappeln, passt nicht so recht dazu, dass das Tun der Derwische offenbar durchaus gottgefällig sei. Und die Trancezuckungen im Vodoo werden Katholikinnen nur für unangemessen halten, wenn sie die enthusiastischen Verzückungen von Mystikerinnen für epileptische Anfälle halten. Was machen Juden an Kotel, der Klagemauer? Und warum rollen die Kathakali-Tänzer so viel mit den Augen? Warum falten die einen die Hände, legen andere sie mit den Handflächen aneinander, lassen sie wieder andere auf den Knien ruhen und strecken sie manche gen Himmel?

Gesten und körperliche Bewegungen sind in allen Religionen Teil der Rituale und Kulte, in denen Gläubige mit Gott in Verbindung treten wollen. Seine Anrufung kann viele Gründe haben. Manchmal geht es darum, ein Zeichen zu erhalten oder ein Wort. Manchmal werden die Arme ausgebreitet, um den Geist Gottes zu empfangen.

Was sagt die Gestenforschung über Gebetsgesten? Kann die Wissenschaft den Prozess der Gestenentstehung in religiösen Dialogsituationen mit begrifflichen Unterscheidungen erfassen? Handelt es sich aus ihrer Sicht eher um redebegleitende Gesten oder um emblematische Gesten? Und welchen Beitrag kann anderseits gestische Forschung leisten, um Motivation und Intention, Antrieb und Absicht, Richtung und Ziel, Zweck und Sinn, bewusste und unbewusste Anteile von Bewegungen und Gesten zu verstehen? Was tun Gläubige, wenn sie sich beim Beten bewegen?

Christen verbinden die Geste des Kniebeugens oder des sich Hinkniens (Genuflexio) und den Kniefall (Venia) mit der Bekreuzigungsgeste – oder nicht. Beim Niederwerfen (Prostratio und Metanie) kann der gesamte Körper ein Kreuz bilden, wenn dabei die Arme waagerecht vom Körper abgestreckt werden. Manche Juden schockeln (schaukeln) beim Gebet Sch’mone esre heftig – andere nicht. Muslime verbeugen (ruku’) sich im Gebet beim Subhana rabbija-l-‘adsim, dem Preisen des Erhabenen, dreimal mit den Händen auf den Knien und vollziehen dreimal sadschda (Niederwerfung), während die Zehenspitzen und Knie den Boden berühren. Und im Voodoo werden die Seelen der Hounsi (Kinder) als Engel verstanden (grand-bon-ange, großer guter Engel, und petit-bon-ange, kleiner guter Engel), die die Körper verlassen müssen. Erst dann können die um den Zentralpfeiler Tanzenden den Iwa (Geistern) als Behältnis dienen. Und erst dann können sie mit Botschaften auf Fragen antworten.

Die Bewegungen der Körper im Gebet scheint also alle Religionen zu verbinden, wie die Bewegungen der Körper in der Kunst die Kulturen. Gesten, die sich aus Handbewegungen formen und schließlich als Zeichen aufgefasst werden, sind Teil des Geschehens. Allerdings scheint der Glaubenslehre wie der Wissenschaft die Bedeutsamkeit von Gesten wichtiger als die Begeisterung, die sie hervorruft. Was Gesten inspiriert, welcher Geist sie in Bewegung setzt, wie Enthusiasmus sie zum Tanzen bringt, das ist für Verwalter des „richtigen“ Glaubens mitunter kein gutes Zeichen.

Robert Krokowski