Schieflage ist eine Frage der Perspektive

Igor Mitoraj, Angelo Caduto (Fallen Angel); Pisa, Piazza dei Miracoli © Frank Werner Pilgram

Schon in den Mythen vom Sturz des Lichtbringers und vom Genuß der verbotenen Frucht der Erkenntnis offenbart sich die tiefe Zweideutigkeit des menschlichen — oder sollten wir sagen: teuflischen — Intellekts, dessen instrumentell-rationali­sier­ende Seite aktuell ein weiteres Mal seine zerstörerische Geschichtsmacht entfaltet: „Die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils“. In Form des pandemischen medizinischen Imperativs amputieren sich Gehirn und Unterleib gleichermaßen, so wie es der gefallene Engel von Igor Matoraj auf der Piazza dei Miracoli prophetisch vorführt. Sperrig zerschmettert liegt Luzifer zu Füßen des berühmten Turms, dessen ingeniöses Gewicht die sumpfige Erde kaum zu balancieren vermochte, so daß der fast das Schicksal des phallischen Rebellen geteilt hätte. Dem nun die Figur des Engels mehr stützenden als erhebenden Flügel aber ist das selbst beschwingte Gorgonenhaupt einbeschrieben, so daß es sich als ein Alter Ego des Perseus erweist. Der Anblick der Medusa läßt den Betrachter bekanntlich versteinern, was ja dem aktuellen Zustand der Weltgesellschaft recht nahe kommt. Den derart an ihrem jeweiligen Ort Petrifizierten scheint alles im Lot — sie müßten sich bewegen, den Standpunkt und damit die Perspektive wechseln, um die gefährliche Schieflage des babylonischen Zivilisationsbaus zu erkennen. Und selbst wenn sie dazu in der Lage wären, würde nicht die Katastrophenfaszination und die Lust am Zusammensturz, mithin die Versuchung, das unbewußte Schuldgefühl final zu befriedigen, überwiegen? Die Legende will, daß Galilei hier in seiner Heimatstadt durch experimentelle Erfahrung die Fallgesetzte entdeckte, und so den anderthalb Jahrtausende gültigen, wissenschaftlichen Irrtum der aristotelischen Lehre korrigierte. Wie lange wird es wohl diesmal dauern, bis der neue, im Gewand der Wissenschaft auftrumpfende religiöse Wahn wieder gebannt ist?

Frank Werner Pilgram