Eigensinn wird in Wörterbüchern meist als negative Eigenschaft beschrieben. Als seine Synonyme werden unter andern genannt: Hoffart, Unart, Unflat, Unverstand, Ungeduld, Launenhaftigkeit, Willkür, Eigendünkel, Hochmut, Trotz, Halsstarrigkeit, Querköpfigkeit, Selbstsucht.
Das Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart beschreibt Eigensinn als „ungeordnete Neigung, seiner Meinung auch bey erkannter Unrichtigkeit derselben zu folgen“. Und nach dem Deutschen Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm findet man gar Eigensinn bei Menschen, die sich nicht Gott überlassen wollen.
So wundert es denn nicht, dass das Märchen vom eigensinnigen Kinde, dem kürzesten Märchen in der Sammlung der Gebrüder Grimm, kein glückliches Ende nimmt.
Es war einmal ein Kind eigensinnig und that nicht, was seine Mutter haben wollte. Darum hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm und ließ es krank werden und kein Arzt konnte ihm helfen, und in kurzem lag es auf dem Totenbettchen. Als es nun ins Grab versenkt und die Erde darüber hingedeckt war, so kam auf einmal sein Ärmchen wieder hervor und reicht in die Höhe, und wenn sie es hineinlegten und frische Erde darüber thaten, so half das nicht, und das Ärmchen kam immer wieder heraus. Da mußte die Mutter selbst zum Grabe gehen und mit der Rute auf’s Ärmchen schlagen, und wie sie das gethan hatte, zog es sich hinein, und das Kind hatte nun erst Ruhe unter der Erde.
(Projekt Gutenberg)
Das eigensinnige Kind wird in diesem Märchen noch über seinen Tod hinaus bestraft und gezüchtigt. Gott und seine Vertreterin in Abwesenheit des Vaters, die Mutter, finden kein Vergnügen an einem Kind, das seinen eigenen Sinn so hartnäckig gegen den ihren behauptet. Indem das Kind (in meiner Vorstellung immer ein Mädchen um die fünf Jahre) daran festhält, seine Sinne gehörten allein ihm, bekundet es einen eigenen Willen, die Welt mit eben diesen seinen Sinnen zu erkunden. Es erhebt damit seinen Anspruch auf Selbstbestimmung, widersetzt sich fremden Ansprüchen und Einwirkungen von außen. Ein solches Verhalten kann der Mutter nicht gefallen, entzieht sich doch das Kind damit ihrem permanenten Zugriff, wird unabhängig und erobert sich seine eigene Welt.
Heute ist die Strafe für den eigenen Sinn nicht mehr der reale Tod durch die Allmacht Gottes – heute erfolgt die Strafe als sozialer Tod durch die Gesellschaft, in die sich Eigensinnige nicht eingliedern wollen. Hegels Aussage in der „Phänomenologie des Geistes“, der eigene Sinn sei Eigensinn, eine Freiheit, welche noch innerhalb der Knechtschaft stehen bleibe, formuliert eine Hoffnung, nicht mehr. Aber auch nicht weniger. Eine Hoffnung darauf, dass Gesten wie die des eigensinnigen Kindes an vielen Stellen auftauchen und sich behaupten mögen gegen ein zu schnelles Verstehen, eine vorschnelle Zuordnung, gegen die Macht derer, die glauben, schon immer zu wissen und aus diesem Wissen eine neue Religion machen.
Robert Krokowski zeigt einen Arm, der sich aus dem alles erstickenden Schaum herausstreckt, einen Entschäumer in der offenen Hand. Der Verschäumung des freien Geistes und damit seiner Bezähmung, Kontrolle und letztlich seiner Unterdrückung entgegenzuwirken ist, so versteht es nicht nur Robert Krokowski, Aufgabe der Kunst: reale Möglichkeiten zu erträumen und Träume real werden zu lassen.
Nicolás Freda schreibt zu seinem Foto: Una hermana muy hermosa la Libertad …“ (Eine sehr schöne Schwester – die Freiheit …) und spielt mit einer Liedzeile aus „Los Hermanos“ von Atahualpa Yupanqui und mit dem Namen Libertad. Freiheit, die sich empor streckt aus dem Grün, es selbst präsentierend.
Eine Hand, die des Fotografen Nicolás Freda, taucht auf dem Foto von Delfina Idea Iocco auf aus dem Bett rostig–roter Geleise, die offene Handfläche dem Betrachter zugewandt. Soll hier ein Körper im Darunter vor dem Tod bewahrt werden? Ein Haltesignal gegeben werden?
Marlen Wagner verweigert mit ihren Fotos der persönlichen Geste, deren Bezeichnung als Zeigegeste und hinterfragt damit nicht nur diese Interpretation, sondern Deutung allgemein.
Marlen Wagner