Die geschickte Geste der Kunst

Marlen Wagner, Gestengeschick, Performance

Das Momentum der Geste in Kunst und Religion (11)

Das Erscheinen von Engeln in Gottesdiensten, gar von solchen mit neuen Botschaften, würde wohl die Gläubigen sehr überraschen. Das liturgische Amt ist den Priestern vorbehalten, auch wenn diese als Personen für das Officium des Dienstes eigentlich gar keine Rolle spielen. Denn vermittelt wird „von Amts wegen“ der Glaube, dass das Wort Gottes bereits geschickt wurde und dass diese Schickungen nun mit Gesten bekräftig werden. Dieser Glaube würde massiv erschüttert, wenn in einer liturgischen Situation plötzlich ein anderer Geist wehte – wenn also im Ritual etwas geschähe, was es in einen Spielraum  der Kunst verwandeln würde. Religiöse Orthodoxie immunisiert deshalb das Ritual gegen Gefahr einer Geistesgegenwart, die nicht durch eine Geste repräsentiert wird, sondern in einer Geste zum Zuge kommt.

Wo aber Gefahr ist, wächst
Das Rettende auch.

Diese Zeilen aus Hölderlins Dichtung Patmos können auch als geschickte Geste der Kunst gegenüber dem religiösen Ritus verstanden werden. Aber wie ist Rettung möglich und was gibt es zu retten und wer oder was rettet wovor? Vielleicht bedarf es tatsächlich des Dichtermuts und der Blödigkeit (so die Titel von zwei Versionen eines Gedichtes Hölderlins), um mit künstlerischem Geschick jenen Geist zu retten, der in mechanisch ausgeführten Ritualen zwar gestisch bezeichnet wird, in ihnen aber nicht gegenwärtig ist.

Kunst findet im Momentum der gestischen Bewegung eine Möglichkeit, die durch den Ritus verhindert wird: Neues entstehen zu lassen. Glauben zielt mit der rituellen Wiederholung des Immergleichen auf das Verharren in Ewigkeit, nicht auf den Ursprung von etwas Neuem. (Dass die katholische Kirche im Grunde selbst das Katechon ist, was die Parusie Christi dadurch verzögert, dass im Zelebrieren des Sakramentes der Eucharistie das Opfer Jesus zur lebendigen Teilhabe der Gemeinde an seinem Mahl und seiner als Mahl in Permanenz wiederholt wird, gehört zu den Mysterien der Liturgie.)

Ritus und Ritual erlauben nur den Sprung in den Glauben, nicht ein Entspringen aus ihm heraus. Dem gebetsmühlenartig ablaufenden Ritual, in dem die Ewigkeit des Glaubens mechanisch beschworen wird, stellen Kunsttreibende die lebendige Bewegung gegenüber, in der sich Geistesgegenwart verkörpert. (Das Momentum einer Geste in der Kunst erweist sich genau dann, wenn es ihr gelingt, die Gelegenheit beim Schopfe zu fassen, Chronos in Jetztzeit zu verwandeln.)

Entscheidend für den Erfolg auch von Kunst ist – mit einem Wort Walter Benjamins – „allein das Wo des Geistes“: „Daß er im Augenblicke und im Raum zugegen sei, das schafft er nur, indem er in den Stimmfall, das Lächeln, das Verstummen, den Blick, die Geste eingeht. Denn Gegenwart des Geistes schafft allein der Leib.“ (Denkbilder, Der Weg zum Erfolg in dreizehn Thesen. 13. These)

Eine geschickte Geste ist also eine Geste, die Geistesgegenwart bezeugt. Es ist eine unbewusst gelingende Geste, keine bewusst herbeigeführte. Tanzende kennen dies genau: Je „bewusster“ eine Bewegung gemacht wird, desto größer das Risiko des Fehltritts. Geistesgegenwart benötigt ein inspiriertes mechanisches Tun, das sich nicht im Verfügen über künstlerische Technik erschöpft und auch nicht im mechanische Nachbeten.

Hölderlin unterscheidet zwischen téchne (τέχνη) und mechané (μηχανή). Als „mechanisch“ beschreibt er aber nicht das Funktionieren einer geistlosen Maschine, sondern ein Tun, das im Gegenteil hochgradig enthusiasmiert ist, denn das mechanische Geschick bezeugt für ihn Geistesgegenwart. Es kommt bei der unbewusst gelingenden Geste noch etwas anderes zum Zuge als reine Technik.

Kunsttreibende weisen also eine künstlerische Geschicklichkeit auf, die sich nicht auf Technik reduzieren lässt. Geschick setzt Technik voraus, nicht bewusst ein. Es bedarf durch Verkörperung der Kunstfertigkeit der Verwandlung von Technischem zu einem Teil dessen, was Geschick umfasst. Technik ohne Geschick ist leer, Geschick ohne Technik wäre Geist ohne Körper, also Schicksal.

Die Religionen verkündigen göttliche Schickungen als Schicksal der Menschen. Die Gläubigen sollen ihr Schicksal ihrem Glauben gemäß erfüllen. Was aber dieser ist, das bestimmen die Dogmatiker der Kirchen. Dagegen protestieren Kunststreibende, wenn sie darauf pochen, dass es in der Kunst nicht darum gehe, ein göttliches Schicksal zu erfüllen, sondern das eigene Geschick zum Zuge kommen zu lassen.

Für Hölderlin sind die inspirierten Kunsttreibenden zudem mit dem Geschick begabt, in ihrem Tun die „lebendige Möglichkeit des Geistes“ zum Zuge kommen zu lassen, bevor sie von Gott ergriffen werden. Und dies wird dadurch ermöglicht, dass sie diesem Gott mit „kühnen oft sogar blasphemischen Worten“ begegnen. Indem Gott durch die Kunstreibenden also derart „auf Distanz“ gehalten wird, kann ihre Kunst durch Inspiration animiert werden. Das unterscheidet sie von denen, die im Glauben von Gott beseelt werden.

Und damit ist das Schicksal der Gläubigen ein anderes als das Geschick der Kunsttreibenden. Dichtende, so Walter Benjamin – und dies muss für Gläubige in der Tat übergriffig erscheinen – ergreifen Gott dann, wenn er „in seiner toten Unendlichkeit“ Gegenstand geworden ist. Allerdings klingt dies nur so lange blasphemisch, wie das Reich Gottes mit der Kirche verwechselt wird.

Die Übersetzung von „Enthusiasmus“ (ένθουσιασμός) in „Begeisterung“ verwandelt das Schicksal Gottes in das Geschick des Kunsttreibenden. Das im griechischen Wort enthaltene éntheos (ἔνθεος, ἔνθους) wird so also nicht als gottbegeistert verstanden sondern als von einem Gott ergriffen, in sich Gott habend. Indem Kunsttreibende in Enthusiasmus Begeisterung finden und nicht Gott, können sie die Möglichkeiten ergreifen, die ihnen ihr Begeistetsein, ihr Inspiriertsein bietet. Sie tun dies mit gestischen Mitteln, die ihr Maß nicht im Wort Gottes finden, sondern im jeweils eigenen Maß, also gemäß ihres Geschicks. Kunst ist demgemäß ein geschicktes Treiben.

Kirchenlehrer sehen darin folgerichtig ein vermessenes Tun, ein Laster, das zur Todsünde werden kann, wenn denn der Hochmut der Hybris bewusst praktiziert wird. Denn Vermessen muss es aus Sicht kirchlicher Dogmatik wohl sein, sich von jenem Geist inspirieren zu lassen, der sogar die Engel zum Tanzen bringt.

Wenn Hölderlin als Kunsttreibender einen großen Wert auf die Unterscheidung von mechané und téchne legt, von Kunstgeschick und Kunstfertigkeit, dann gibt dies zu denken. Würden wir dieser Spur hier weiter folgen, dann würden wir vielleicht mit Robert Musil dem Möglichkeitssinn des Mannes ohne Eigenschaften begegnen. Oder mit Wim Wenders die Neugier teilen, warum sich die Engel unter dem Berliner Himmel so zu Kunsttreibenden hingezogen fühlen. Oder Pina Bausch begleiten, wenn sie ihr Tanztheaterprogramm verwirklicht und sagt: „Mich interessiert nicht, wie die Menschen sich bewegen, sondern was sie bewegt.“  Kunst der Gegenwart ist offenbar nicht nur im Theater wenig vom Interesse am deus ex machina (Gott aus der Maschine) inspiriert, sondern eher vom pneuma en mechané (Geist in der Maschine), der nicht nur das Theater zu einem Möglichkeitsraum macht.

Gut auch sind und geschickt einem zu etwas wir,
Wenn wir kommen, mit Kunst, und von den Himmlischen
Einen bringen. Doch selber
Bringen schickliche Hände wir.

Friedrich Hölderlin: Blödigkeit, Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 2, Stuttgart 1953, S. 65-66,70.

Hölderlins Übersetzungen griechischer Texte und seine Beschäftigung mit der Weltentstehungslehre Platons im Timaios zeigen deutlich, woher für ihn Kunst ihr Geschick und dieses Geistesgegenwart erlangt. Nicht von einem verewigten Gott, sonden aus einem der  Schöpfung wie dem schöpferischen Tun innewohnenden lebendigen und sich bewegenden Geist. Man könnte diesen mit Klaus Heinrich auch „Triebgrund“ nennen oder mit Julia Kristeva im Rückgriff ebenfalls auf Platons Timaios „Chora“, als bewegtes Medium der künstlerischen Inspiration.

Fürchtet den Dichter nicht, wenn er edel zürnet, sein Buchstab
Tötet, aber es macht Geister lebendig der Geist.

Robert Krokowski