Das Momentum der Geste in Kunst und Religion (7)
Ernst Jandl hat mit seinem Gedicht Zweierlei Handzeichen aus seiner Sammlung „Laut und Luise“ den Unterschied zwischen religiös und künstlerisch motivierten Handbewegungen sehr einfach zur Sprache gebracht:
Ich bekreuzige mich
vor jeder Kirche
ich bezwetschkige mich
vor jeden obstgarten
Jandl bemerkt dazu lalkonisch weiter, das die Geste der Bekreuzigung jeder Katholik kenne – die der Bezwetschkigung er allein.
Es wäre nun möglich, über die Bedeutung der Handbewegung der Bezwetschkigung zu spekulieren. Man könnte auch fragen, warum ein Dichter zwei Zeichengesten derart verbindet und diese Verbindung wiederum in einem Gedicht sehr gestisch präsentiert. Allerdings hätte dies wahrscheinlich die üblichen Folgen: Es verflüchtigt sich beim Auseinandernehmen eines Gedichtes in seine Einzelteile genau jener Esprit, der in ihm wirkt, wenn es für einen Augenblick Wörter zu Sprachkunst verdichtet.
Jedes gelungene Gedicht ist ein Momentum. Der Redefluss der Wörter hält inne, aus dem die Worte eines Gedichtes auftauchen. Vieles von dem, was zuvor und danach zur Sprache gebracht wurde, erweist sich dann als leeres Gerede. Auch deshalb schmerzt ein misslingendes Gedicht hin zum Schließen der Augen oder der Ohren.
Jedes gelungene Gedicht weiß darum, dass es uns einen beredten Augenblick bereit hält. Die besten Gedichte blinzeln uns vom Rande des Schweigens zu, als würden sie sich im nächsten Moment verflüchtigen. „Soeben schwebte ein Engel durch den Raum“ heißt es über einen Augenblick des beredten Schweigens, in dem das Getriebe des Sprechens aussetzt. Wenn die mit Worten ihren Gedanken atemlos Hinterherhastenden innehalten, dann kann der Geist aufatmen.
Könnte ein durch den Raum schwebender Engel, gäbe es ihn, dies aus eigenem Antrieb tun? Oder benötigte er etwas, was ihn bewegt? Der Luftzug, der einen Engel bewegte, ist der des Esprits, wenn er sich aus dem Gerede der Kommunikation in das Momentum eines Gedichts zurückzieht. Deshalb wird ein Gedicht, wenn es dem Sprachwitz Asyl gewährt, auch „geistreich“ genannt.
Die Erfahrung der literaturwissenschaftlichen Entdichtung eines Gedichts durch seine Interpretation kennen wohl alle Studierenden. Sie ähnelt der Erfahrung bei der theologischen Auslegung von Bibeltexten. Es ist lehrreich, wie ein Text durch Interpretation und Exegese seinen Witz verlieren kann. Was dann so geistlos wirkt wie die Interpretation selbst, die ihn seziert, zergliedert, präpariert und mit Bedeutungen ausgepolstert hat, ist ein vertrockneter Engel mit Glasaugen. Gedichte, die unter die Wissenschaftler gerieten, hocken deshalb oft nur noch mit vertrocknetem Gefieder auf einer Armatur aus verdrahteten Begriffen.
Angesichts der generationsübergreifender Praktiken, der Kunst den Geist auszutreiben, grenzt es an ein Wunder, dass und wie Gedichte ihre Geistesgegenwart bewahren, wie Metaphern, trotz des permanenten Versuchs, sie zu Tode zu begreifen, lebendig bleiben.
Deshalb können wir einem der Winke folgen, die der Esprit in Ernst Jandls Gedicht uns gibt. Obstgartenholz, das Früchte tragen könnte. Die Zeichengeste der Bezwetschkigung könnte vielleicht mitteilen, verstünden wir sie wie die Gläubigen das Kreuzschlagen, was wir erwarten können, wenn die Zeit reif ist.
Aber um zu wissen, welche Früchte lebendiges Holz tragen könnte, reicht es manchmal auch, sich die Blätter anzusehen. In seinem Gedicht Der Pflaumenbaum hat Bertolt Brecht sehr schön darauf hingewiesen, wie auch ein kleingehaltenes Bäumchen den Versuch überleben kann, ihm seinen Entfaltungsdrang durch Einsperren auszutreiben.
Selbst scheinbar totes und gekrümmtes und zum Instrument gemachtes Holz kann noch zeigen, was in ihm steckt. Etwa ein an der richtigen Stelle eingepflanzter Spazierstock. Aus theologischer Sicht ist derartiges ein Wunder und als solches Gottes Werk – deshalb wird dieses Bild auch gerne in Predigten verwendet. Carl von Killinger beschrieb 1849 in seinen Sagen und Mährchen, wie der Spazierstock des Königs Sankt Kiran zu einem Baugrund für eine Kirche verhalf. Zwar hatte der König die hübscheste Schafweide Irlands dafür eigentlich nicht hergeben wollen. Der austreibende Stab war dann aber Wink Gottes genug. Ein Wink Gottes, ein einfaches Zeichen, das sofort weist: So, hier und jetzt zeitigt sich der Geist Gottes. Als eine Geste der Natur, die bezeugt, dass auch etwas Totem wieder Leben eingehaucht werden kann.
Manchmal wünschen sich Gläubige beim Beten einen Augenblick der Berührung zu erfahren, in dem sich ihnen Gottes mitteilt. Sie erwarten ja nicht viel. Nur eine kleine Geste, die ihnen zeigt, dass sie bemerkt, gar gesehen werden. Manchmal versuchen Gläubige, die lyrische Form des Gedichts in die liturgische Form des Gebets zu übertragen. Etwa durch beten eines Psalms: „Tu ein Zeichen (אֹ֗ות, σημεῖον) an mir (gib mir einen Hinweis), daß mir’s wohl gehe …“ (Psalm 86, 17). עֲשֵֽׂה־עִמִּ֥י אֹ֗ות לְטֹ֫ובָ֥ה וְיִרְא֣וּ שֹׂנְאַ֣י וְיֵבֹ֑שׁוּ כִּֽי־אַתָּ֥ה יְ֝הוָ֗ה עֲזַרְתַּ֥נִי וְנִחַמְתָּֽנִי׃
Nicht allen sind aber dann Geisterscheinungen und Hinweiszeichen beschieden wie etwa Teresa von Avila. Zu Pfingsten 1563 werden der Mystikerin Pneumaphanien zuteil, die sie zutiefst berühren und ihr die Botschaft Gottes übermitteln: „Ich will, daß du von nun an nicht mehr mit Menschen, sondern mit Engeln umgehst.“ (Autobiografie V 24,7). Eines der „Kennzeichen, aus denen die Anfänger, die Fortgeschrittenen und die Vollkommenen entnehmen können, ob der Hl. Geist mit ihnen sei“ ist die Erscheinung der Taube: „Während dieser Betrachtung sah ich über meinem Haupte eine Taube, die von den hiesigen Tauben aber recht verschieden war, da ihre Flügel anstatt der Federn hellglänzende kleine Muscheln aufwiesen. Sie war auch größer als die gewöhnlichen Tauben, und es schien mir, das Rauschen ihrer Flügel zu hören. Sie schwebte über mir ungefähr ein Ave Maria lang.“ (V 38, 9–10).
Auch Kunsttreibende greifen manchmal auf die Form des Gebetes zurück, um uns mit dem Geist bekannt zu machen, der im Traum aus einem Wort eine unerwartete Wunscherfüllung wachsen lässt, wie Rose Ausländer in ihrem Gedicht Hunger:
Hinter dem Rücken
des automatisch wachsamen Engels
traumhoch
der Baum
Was also verbindet eine Hinweiszeichenspur (אֹ֗ות, σημεῖον) des wirkenden Geistes mit den Gesten, in denen er sich zeigt?
Robert Krokowski