Vom Traum der Achtsamkeit des Angelus Suspensus

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Angelus Novus – Tanz in den Trümmern

Angelus suspensus. Essays über die Geduld der Engel (6)

Und ein Sturm weht vom Paradiese her … 

… und er stößt die Tore des Paradieses weit auf. Seinen Ursprung hat er am Baum der Erkenntnis. Er baut sich auf, nachdem die verbotene Frucht gepflückt wurde. Bewegte bisher nur sanfter Wind Blätter und Früchte, wird er nun stärker und stärker. Er fegt mit Brausen durch das Paradies, sprengt dessen Tore auf. 

Ein namenloser Engel, die Flügel gefaltet dem Tore zugewendet, hört nur noch ein protestierendes Quietschen der bisher ungenutzten Angeln – dann wird er hindurchgerissen vom Sturm. Voller Entsetzen reißt er die Augen weit auf, öffnet den Mund zu einem protestierenden Schrei. Fortgerissen von seinem Platz, von seiner Arbeit, treibt er mit geöffneten Flügeln im Sturm, den Blick sehnsüchtig auf die Stelle gerichtet, wo eben noch die Pforten des Paradieses ihm Heimat boten. 

Ein Engel der Leideform – handlungsunfähig. Unfähig, sich zu bewegen, gar zu handeln, verharrt er in dem Zustand, in dem ihn der Sturm gefangen hält. Er wird getrieben durch das, was es vor dem Sturm nicht gab: ein Außerhalb des Paradieses. Eine Welt bildet sich, und er ist Zeuge – von Zeit, von Geschichte. Dies nun ist seine Aufgabe.

Seine Flügel verbleiben ausgespannt, so wie in jenem Bruchteil einer noch nicht bestehenden Zeit, als der Sturm ihn erfasste und er sich mühte, ihm standzuhalten, doch mitgerissen wurde. Auch seine Augen kann er nicht schließen, vor dem, was er zu sehen gezwungen bleibt. In hilfloser Paralyse, seiner Fähigkeit zu fliegen beraubt, bleibt ihm nur, seine neue Aufgabe zu erfüllen: zu sehen, zu bezeugen. 

Vor den Toren jedoch wachen nun andere Engel, Cherubim, die Flügel dem Paradiese zugekehrt, den wachsamen Blick nach außen gerichtet, das blanke flammende Schwert zur Abwehr erhoben. 

Walter Benjamin schreibt in seiner IX. geschichtsphilosophischen These von Klees Angelus Novus, der, gefangen in einem Sturm, durch die Zeit treibt – sein Gesicht der Vergangenheit zugewandt, seinen Rücken der Zukunft. Gewaltig muss dieser Sturm sein, dass er einen Engel so hilflos vor sich hertreibt, unfähig zu verweilen, einzugreifen. Der Sturm des Fortschritts, denn um diesen handelt es sich bei Benjamin, häuft Trümmerberge auf, Zeugnisse einer einzigen Katastrophe. 

Klees neuem Engel wachsen Schriftrollen anstelle von Haaren. Für wen sind diese Botschaften bestimmt? Was wird noch entziffert werden können, wenn der Sturm in ihnen wütet, sie zerfetzt, zerreißt?
Was könnte den Engel aus dem Sturm befreien, damit er seine Flügel wieder zum Fliegen gebrauchen kann? Die Zeit des Fortschritts, Chronos, wird mit Flügeln dargestellt – jedoch ist auch er es, der die Flügel anderer stutzt. (z.B. auf Gemälden von Pierre Mignard, Michel Lalos, Van Dyck, Giacinto Gimignani – in Johann Heinrich Schönfeld Allegorie übergibt Eros seine Flügel sogar an Chronos.)
Wie kann man „die Gelegenheit beim Schopf fassen“ und im Chronos, in der ablaufenden Zeit, den Kairos, die verdichtete Zeit, finden?
Und: Erzählt dieser Text von Benjamin einen Albtraum  oder ist es ein Wachtraum? Und wer träumt ihn? Träumen Engel? Tagträume oder Nachtträume? Und falls ja, wovon würde der Engel der Geschichte träumen?

An Träume kann man sich nicht erinnern, sagt einer, man kann sie nie in sich tragen, nur aushalten. Sie bleiben hors-corps, horse-texte. 

Man kann sie aber zeichnen. Immer, sage ich und nehme den Bleistift. Ich bin nicht der Engel der Geschichte, wäre er aber ich, würde ich ihm Folgendes zeichnen: Ein Punkt setzt den Anfang – präzise, entschieden. Die Bewegung des Ocho beginnt. Die Spitze berührt den Boden wie die Feder das Papier: schwer genug, um einen Abdruck zu hinterlassen, doch leicht genug, um die Linie freizugeben. Es ist der Moment, in dem alles stillzustehen scheint, bevor die Bewegung sich entfaltet. Von diesem Punkt aus dreht sich die Tänzer auf der Stelle um die eigene Achse, während der Drehpunkt, der Pivot selbst fixiert bleibt. 

Wir tanzen die Ruinen. Eine Drehung, in der die Energie kreist, als brenne sie sich in den Raum. Während der Führende mit einem Seitwärtsschritt den Folgenden zur Drehbewegung einlädt, folgt dieser der einladenden Bewegung – und pivotiert. Dabei beschreibt sein freier  Fuß einen Bogen, hebt sich in einem Schwung, der halb in der Luft gezeichnet, halb auf den Boden projiziert wird. Dieser Bogen ist nicht nur Bewegung, eine Gestalt: eine halbe Acht, die aus der Energie des Anfangs geboren wird, bevor der nächste Schritt die Erde berührt. 

Nun beginnt das Spiel der beiden von vorn – die zweite Hälfte der Acht wird geschrieben. Die halbe Acht ist mehr als bloßes Formen. Beine schreiben mit Fußsohlen eine Sprache, die sich aus Rhythmus und Wiederkehr speist. Der Schritt trägt die Kraft des Punktes weiter, jede Linie verweist auf die Kommende. Zwei Tanzende, die nur in der gemeinsamen Aktion etwas erschaffen , etwas schreiben können. Zwei Tanzende, die, dem jeweils anderen Raum gebend, von Du zu Du ein Wir formen und das Symbol der Unendlichkeit.

Unendlichkeit der Tanzbewegung, ihr Immer-Wieder, ihr Noch-Einmal kann das Tanzpaar auf einer gedachten Bahn durch den Raum führen oder sich auf einer Stelle einschreiben lassen, so lange, bis der Raum sich darum erneut öffnet und die Bahn frei gibt. Denn nur selten tanzen diese beiden allein im Raum. Andere Paare bewegen sich neben, vor und hinter ihnen. Und nur wenn es gelingt, dass aus dem Wir des einen Paares ein Wir aller Paare wird, fließt der Raum. Ein Flow entsteht, in dem Zeit keine Rolle mehr spielt, in dem, getragen durch die Musik, sich alle Paare gemeinsam bewegen und als Paar und als Führende und Folgende. Mag die Bewegungslinie im Raum auch die eines Kreises sein, die des Tanzes ist die einer Ellipse. Zwei Doppelbrennpunkte: Du und Du – Wir und Wir.

Der Engel beobachtet den Tanz nicht. Er sieht sich selbst, immer wieder, als träumende Gestalt, gefangen im Wirbel des Sturms.  Sähe er sich selbst, so könnte er vermuten, er tanze. Doch es sind nur die Kräfte des Sturms, die ihn umherwerfen. Sie gleiten um ihn herum und über ihn hinweg. Der Wind verursacht eine Strömung an der Oberfläche, die sich nicht exakt in die Richtung des Windes bewegt, sondern leicht abgelenkt wird. Unterliegt der Engel im Sturm des Fortschritts der Corioliskraft? Ist sein Körper im Sturm gebunden an den rotierenden Erdkörper – und wird deshalb seine Flugbahn scheinbar abgelenkt? Möglicherweise ist sein Blick auf die aufgehäuften Trümmer deshalb ein träumender – immer um ein Weniges versetzt. Und möglicherweise weckt gerade dieser schiefe Blick den Wunsch ihn ihm, zu „verweilen, die Toten (zu) retten und das Zerschlagenen zusammen(zu)fügen.“ Was geschähe, erwachte der Engel – und sei es auch nur für einen Moment? Könnte er dann dem Sturm entkommen, aus ihm heraus in eine andere Zeit fallen. Eine Zeit, die nicht chronologisch die Katastrophen aufreiht, sondern in der anderes möglich wäre? Tanzen, vielleicht.

Doch Engel sind nie wach. Der Sturm, der den Engel hält, ist nicht Bewegung, sondern Zustand. Die Tänzer erscheinen ihm wie das Schimmern seines eigenen Traums: ein unendliches Spiel von Wiederholungen, in dem jede halbe Acht einen Teil von ihm selbst spiegelt, was ist, um es nicht zu sein. Heute erkennt der Engel etwas Neues: In jeder halben Acht schwingt eine zweite mit, unsichtbar und doch fühlbar. Yin und Yang. Gemeinsam bilden sie zwei neue Brennpunkte der Feuer-Ellipse. Sie bleiben weder sichtbar noch still, sondern leben, pulsieren einander in die Bewegung. 

Der eine Schwung öffnet, strebt nach außen, während der andere zurückführt, hält, bewahrt. Die verschränkten Auslassungszeichen verkörpern die Harmonie der Gegensätze. Der Vorwärtsschritt ist das Yang, das Streben, das Öffnen. Der Rückwärtsschritt ist das Yin, das Halten, das Umfassen. Beide vereinen sich wie zwei Hälften, wie zwei, die sich gegenseitig bedingen. Tanz und Ocho sind Dialog. Vorwärts und Rückwärts, Punkt und Schwung, Chaos und Ordnung – all das begegnet sich in dieser Bewegung. Es entsteht ein Fluss, in dem die Gegensätze sich auflösen und finden, sich umarmen und neu Form finden. 

Der Engel sieht, wie Verschränkte den Raum füllen und zugleich die Zeit bindend verfugen. Wie der Ocho verweist das Flüchtige, in dem Auge und Blick, Zeit und Raum, Alles und Nichts aufgehoben sind, in dem das Unausgesprochene und das Unsichtbare atmen können, gemeinsamer ZeiTraum für Bewegung und Ruhe, Laut und Stille. Der Engel ist immer nur ein Träumer, aber er beobachtet den Tanz nicht. Er tanzt selbst und erwacht doch nicht. Er schläft den Sturm mit offenen Augen. Seine Beine sind sehr achtsam. Und dann geschieht es: Fehltritt und das Trümmerfeld bleibt liegen.

Marlen Wagner
Tom Sojer