
Angelus suspensus. Essays über die Geduld der Engel (5)
Ein Bild schweigt und schreit zugleich.
Es gibt das Bild von Paul Klee mit dem Titel „Angelus Novus”. Walter Benjamin bezieht sich in der neunten seiner Thesen über den Begriff der Geschichte darauf und interpretiert den Abgebildeten als „Engel der Geschichte”. Benjamins These bildet zusammen mit dem Bild Klees und jener Strophe aus dem Gedicht Gershom Scholems, die der These als Motto dient, eine neue Bildkonfiguration, den „Engel der Geschichte”. Anderswo verwendet Benjamin den Begriff „dialektisches Bild”, um bestimmte historische und kulturelle Konstellationen zu beschreiben. In diesen ist der Betrachter ein Teil der Konfiguration. Denn solche Bilder benötigen, um entstehen zu können, einen Betrachter, der – im Augenblick ihres Entstehens – das Bild „stillstellen” kann. In diesem Augenblick wird gleichsam durch den Betrachter die Zeit beim Schopfe gefasst und festgehalten. Was Benjamin „Dialektik in Stillstand” nennt, das ist die Betrachtung des „Schwebezustand überm Abgrund”, den das Bild zeigt.
Wir nehmen Benjamins Betrachtung auf. Wir treten wir in einen Dialog mit seiner Interpretation des Bildes. Wir suchen nicht historische Verankerung – wir finden dialogische Gegenwart. Diese Gegenwart entfaltet sich nicht allein durch unsere individuelle Betrachtung, sondern sie entsteht im Wechselspiel zwischen uns als den Betrachtern und dem Bild.
Wir tun dies nicht nur als jeweils einzelne Betrachter, die sagen „Ich sehe ein dialektischen Bild …” und: „Es zeigt …”. Sondern wir beziehen uns wechselseitig in die Betrachtung ein. Dadurch entsteht eine neue Konfiguration. Und die Aktualität unserer Betrachtung ist eine andere als die Klees oder die Benjamins. Wir sehen das Bild, das uns der jeweils andere aufgrund seiner Betrachtung des Bildes zeigt. Durch diesen Prozess wird deutlich, dass Vermittlung nicht nur zwischen Betrachter und Bild, sondern auch zwischen den Betrachtern selbst geschieht. Diese Vermittlung schafft einen Raum, in dem unsere Perspektiven aufeinandertreffen und neue Einsichten freisetzen. Gerade in diesem Schwebezustand, in dem die Fixierung auf eine eindeutige Deutung aufgelöst wird, zeigt sich die Dynamik des dialektischen Bildes: Es lädt dazu ein, nicht nur Bedeutungen zu entschlüsseln, sondern auch unsere Beziehung zur Geschichte und zur Gegenwart zu hinterfragen.
Es ist im Rahmen einer performativen Darstellung als Text, wie der vorliegenden, immer reizvoll, Vermittlung zu betreiben. Allerdings setzt dies dem Begreifen eine Grenze und eröffnet einen neuen Prozess. Dieser vermittelt Begreifen mit ästhetischer Erfahrung, nimmt emotional Fühlung auf. So kann zum Beispiel ein das Textgeschehen intentional und begrifflich Beobachtender ärgerlich, zornig, wütend reagieren, wenn er sich konfrontiert sieht mit einer Beobachtungsweise, die sich seiner Konvention der rationalen Differenzierung nicht fügt. Schlimmer noch, die deren behauptete Rechtmäßigkeit außer Kraft setzt.
Wie zum Beispiel im vorliegenden Essay.
Gezielte Irritation kann den Eindruck erwecken, dass sich die Schreibenden über die ihren Text Lesenden erheben – besonders wenn Hermeneutik mehr Verwirrung als Offenheit schafft. In solchen Fällen wird die performative Dimension des Textes nicht zu einer Herausforderung, die die Lesenden in einen produktiven Dialog einbezieht, sondern sie entwertet sie. Die angestrebte dialogische Vermittlung verwandelt sich in eine hierarchische Beziehung und die offene Spannung zwischen Text und Lesenden in eine Barriere. Ein subtiler und bewusster Umgang mit Irritation kann jedoch den Raum für gemeinsame Erkenntnisprozesse erweitern. Schreiben bleibt immer im Balanceakt zwischen gewaltsamer Übermittlung und waltender Vermittlung.
Wir interessieren uns dafür, was im Schreibprozess zwischen uns in der Schwebe bleibt. Mit Ernst Bloch gesprochen: die aus der Wirklichkeit des Bildes entspringenden Möglichkeiten als ihre utopische Ladung (das dynamei on [im Potenzial Seiende] und das kata to dynaton [gemäß dem Möglichen], die im experimentum mundi [Erprobung der Welt] stecken. Oder mit Giorgio Agamben gesprochen: die in der Wirklichkeit mögliche Jetztzeit, Möglichkeit als Präsenz, gemeinsam gelebt. Lebensformen, in denen sich Beziehungen zwischen Du und Du vermitteln. Diese Ansätze eröffnen einen Raum, in dem Bild und Betrachter gemeinsam die Potenziale des Augenblicks freisetzen können. Die utopische Ladung, die Ernst Bloch im “experimentum mundi” beschreibt, ist für uns kein abstraktes Konzept, sondern eine greifbare Möglichkeit, die sich im Augenblick der Betrachtung offenbart. Ebenso eröffnet Agambens “Jetztzeit” eine Präsenz, die den statischen Begriff des Bildes überwindet und es zu einem dynamischen Resonanzraum erweitert. Beide Perspektiven verschränken sich in der Bildbetrachtung, indem sie die Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und einer offenen Zukunft aufzeigen. Eine solche utopische Ladung birgt somit ungesehene Potenziale, die erst im Dialog, in der Beziehung zwischen Bild und Betrachter, zur Entfaltung kommen.
Dabei gilt es auch für jene Beziehungen zwischen Betrachter und Bild einen Ausdruck zu finden, bei denen das Bild zum Spiegel der Selbstbetrachtung wird. Gerade im Wechselspiel von Betrachtung und Spiegelung entsteht ein Raum, in dem die Grenze zwischen produktiver Selbstreflexion und einer narzisstischen Flucht in die Maske sichtbar wird. Wir erkennen diesen narzisstischen Aspekt bei uns selbst, ihn zu verleugnen wäre gerade eine Verdichtung im narzisstischen Zug.
Ein besonderer Aspekt, der die Maskierung für Narzissten attraktiv macht, ist der Lustgewinn und das Bedürfnis, die Maske zu perfektionieren. Dabei stellt sich die Frage, wie sich diese Dynamik auf die Wahrnehmung von Bildern auswirkt, vor allem in Bezug auf die dialektische Spannung zwischen Engel und Fortschritt. Der Genuss an der Maskierung ist ein typisches Merkmal narzisstischer Persönlichkeiten. Besondere Aufmerksamkeit wird den Faktoren gewidmet, die die Stabilität der Maske aufrechterhalten: Wertkapital und Identifikationsintensität. Diese beiden Elemente bestimmen weitgehend, wie lange eine Maske stabil bleibt und welche Szenarien im Falle ihres Zusammenbruchs eintreten. Darüber hinaus ist interessant, wie sich “die Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft” (Walter Benjamin), darstellt, wenn die Maske auseinanderbricht, und welche Auswirkungen dies auf die Narzissten hat.
Die Konfrontation mit Narzissmus wirft die Frage auf, ob eine gemeinsame Betrachtung diese Gefahr entschärfen kann, indem sie das „Ich” aus seiner isolierten Perspektive in ein „Wir” überführt. Die Gefahr der Selbstbespiegelung, der solipsistischen Selbstreflexion, eignet schließlich jeder Bildbetrachtung, gerade jeder dialektischen. Ihr eignet auch die Dynamik multistabiler Kippbilder, bei der sich durch die identifizierende, festlegende und festgelegte Betrachtung des Vexierbildes seine Zweideutigkeit verliert. Etwa, wenn das Ich des Betrachters seine Beziehung zur Dualität, also auch zur Du-Alienation verliert, die ein Bild bewirkt. Sich in der gemeinsamen Betrachtung zusammen mit dem anderen im Wir zu verändern ist Narzissten nicht möglich. Vielleicht denunziert seit Parmenides deshalb jede an seiner Philosophie anschließende Reflexion das Schwanken, das Weibliche, das „In-der-Schwebe-Halten” als Verharren im Ununterschiedenen, im Ungeschiedenen – und bekämpft den Vermittlungsprozess des Unterschiedenen: Deshalb erscheinen Systemtheoretikern Beobachtung und System gleichsam “koextensiv oder zirkulär miteinander verquickt” (Peter Fuchs), während „Fusionsanadytiker” (Robert Krokowski) interessiert, was sich durch die Bildung „elliptischer Konfigurationen” vermittelt.
Ein Farbenmeer. Ein unroter Schlag. Ein roter Duft. Botschaft der Engel. Ein Bild, das schweigt und schreit.
Den Resonanzen von Du zu Du Spielraum zu geben, bedeutet den Beginn eines Vermittlungsprozesses. Vermittlung ist in diesem Zusammenhang ein mehrdeutiges Wort: Seine Verwendung auch hier kann und soll unterschiedliche Bedeutungen evozieren. Insofern wird “Vermittlung” bewusst nicht als klar definierter Begriff verwendet, sondern als “Wortweiche in sprachlichen Wendungen”. Dies soll zeigen (vermitteln), wie in performativen Darstellungen die Reflexion (als rationale, kognitive Beobachtung und begriffliche Unterscheidung) mit Ästhetik (als sinnlicher Fühlungnahme und Vermittlung) verbunden wird. Ziel ist dabei nicht, einen Begriff von Vermittlung zu erhalten, sondern sich notwendig im Reflexionsprozess des Geschehens bildende Vermittlungsbegriffe mit Sprachgebilden zu konfrontieren, in denen Vermittlung sich vollzieht oder abspielt.
Die Auflösung der Grenzen eröffnet Vermittlungsräume, in denen das Gegensätzliche nicht als Konflikt, sondern als Möglichkeit zur Synthese begriffen werden kann. Vermittlungsprozesse erzeugen Gemenge, Mischungszustände, Schwebelagen, Schwankungen, Resonanzen, Konfusion, „Inframince” (Duchamp) und zielen auf etwas, was aus der Perspektive eines Beobachters jenseits der synästhetischen Form liegt: Synästhetische Formen bezeichnen dabei den Unterschied zu Unterscheidungsbeobachtungen, weil sie die begriffliche – auch sprachliche – Unterscheidung bildlich und sprachsinnlich durch Sowohl-als-auch-Aktionen auflösen, verflüssigen. Vermittlung und Beobachtung verhalten sich zueinander wie „Vermischung” (symmeixis) und Unterscheidung.
Aus dem Blickwinkel der Unterscheidungs- und Begriffsarbeit erscheint das oben angespielte Vermittlungsgeschehen als „Vermischung” (symmeixis) von Metaphorischem und Begrifflichem, von Sprachbewegung und theoretischer analytischer Unterscheidung – als Phantasietätigkeit also, als “symmeixis aistheseos kai doxes” (übers., Vermischung von sinnlicher Wahrnehmung und Meinung bzw. Auffassung), als Mischung von sinnlicher Wahrnehmung und begrifflicher Auffassung (Platon, Sophistes, 264b). Solche Beobachtung von Vermittlung wird in performativer Darstellung durch Vermittlung von Beobachtungen gestört, die einem in gängiger Unterscheidungslogik befangenen Beobachter als „konfus”, als verwickelt, verwirrt erscheinen kann.
Aus einem anderen Blickwinkel aber, in dem die Mischformen sich als Vermittlungsweisen darstellen, stellt sich die vermeintliche „Konfusion” eher als ein Fusionsgeschehen dar, in dem Verdichtungen etwas Drittes auftauchen lassen. Zum Beispiel den Angelus Suspensus dort, wo in der Regel der Engel des Fortschritts den Engel der Geschichte maskiert: Der Engel des Fortschritts verkörpert die lineare Illusion von ständigem Wachstum und Verbesserung, während der Engel der Geschichte in den Trümmern der Vergangenheit die zerstörerischen Kräfte dieser Illusion erkennt. Der Angelus Suspensus jedoch hebt die Grenzen zwischen diesen beiden Perspektiven auf. Er wartet in einem Schwebezustand, in dem weder die optimistische Verblendung des Fortschritts noch die melancholische Rückschau der Geschichte überwiegt. In seinem festen Augenblick werden die scheinbaren Gegensätze von Fortschritt und Katastrophe zu einem Raum des Potenzials verbunden, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinanderfließen. Dieser Schwebezustand eröffnet die Möglichkeit, die verborgenen Potenziale der Geschichte zu erkennen und neue Wege jenseits der Maskierung durch den Fortschrittsglauben zu beschreiten.
Eine gemeinsame Betrachtung des Bildes könnte diese narzisstische Verengung aufbrechen, indem sie das Ich in ein Wir transformiert. Das Wir ermöglicht es, die dialektische Spannung zwischen Selbstreflexion und Resonanz zu erkunden, ohne in den solipsistischen Grenzen des Einzelnen zu verharren. In der gemeinsamen Reflexion wird das Bild nicht nur Spiegel, sondern auch Fenster: Es zeigt uns nicht nur, wer wir sind, sondern auch, wer wir durch die Begegnung mit dem Anderen werden können. Die Erfahrung ästhetischer Bildung zeigt, dass so der Prozess der ästhetischen Vermittlung in Gang bleibt. Eine ästhetische Wahrnehmung solchen Geschehens ist die Erfahrung des “Fast-schon-Begreifens”, die sich mit einem “Doch-nicht-Begreifen” verbindet. Eine Erfahrung ähnlich der in einer unvollständig fokussierten Reflexion, in welcher durch am Rande Wahrgenommenes die Konzentration auf das Fixierte gestört wird (wie eine durchdachte sozialpädagogische Veranstaltung mit von Demenz betroffenen Menschen mit Summen, Schreien, Lachen, Stöhnen oder einem durch Aufmerksamkeit in Anspruch genommenen Menschen hindurch “in die Ferne” gerichteten Blick). Dies ist schwer zu begreifen. Etwa so schwer wie eine performative Darstellung – oder eine Kunstperformance oder generell Kunst –, in der sich dennoch (oder auch deshalb) eine ästhetische Erfahrung vermittelt, die eine Wahrheit begründet, die in der Welt des rationalen Nachvollzugs gesucht wird. Die synästhetischen Formen der Bildbetrachtung lösen nicht nur Grenzen auf, sondern eröffnen eine neue Dimension der Vermittlung.
Die beschriebene Dimension lässt sich als Schwebezustand verstehen, in dem Gegensätze wie Begriff und Sinnlichkeit, Beobachtung und Erfahrung miteinander in Resonanz treten. Die Vermittlung wird so zu einem aktiven Prozess, der nicht nur Konfusion, sondern auch Klarheit erzeugen kann – eine Klarheit, die sich gerade aus dem Nebeneinander scheinbar widersprüchlicher Elemente ergibt. Was also vermittelt sich im Augenblick des Engels, des Angelus Suspensus?
Es gibt ein Bild, das schweigt, und doch ist es ein Schrei. Ein Engel steht da, mit Flügeln, die nicht fliegen, in den Sturmwehen, und sie tragen sich. Seine Augen, weit aufgerissen, sehen die Trümmer, die sich vor ihm auftürmen. Der Blick bleibt haften, als könnte das Sehen etwas erlösen. Aber was geschieht, wenn der Engel nicht nur sieht, wenn sein Blick spricht? Wenn er die Trümmer anspricht, sie mit einem “Du” beatmet?
Das Bild des Angelus Suspensus, in dem sich der Angelus Novus und der Engel der Geschichte vermitteln, schweigt und schreit zugleich. Es zeigt einen Engel im Flug, der nicht fliegt. Er zeigt sich als Bewegung im Stillstand, Stillstand in Bewegung. In diesem Augenblick sind Auge und Blick vermittelt. Das Bild zeitigt Raum und verräumlicht Zeit. Der Engel steht in einer Beziehung zu dem, was er sieht – und zu dem, was ihn von draußen angeht. Alles Außen zeigt sich in seinem Antlitz und in seiner Figur. Im Bild des „Engels der Geschichte” vermittelt sich uns (und richtet uns damit darauf aus), was sich Benjamin im Bild des „Angelus Novus” Klees vermittelt: Wie Benjamin liest, was sich im Antlitz des Angelus Novus zeigt, so lesen wir, was sich in der Gestalt des „Engels der Geschichte” zeigt, wenn in ihr der Angelus Novus die Augen aufschlägt und den Mund öffnet, die Flügel spannt. In diesem Moment des Ein- und Ausatmens wird die lineare Zeit des Fortschritts durch eine zeitlose Präsenz abgelöst, die den Augenblick selbst in einen gemeinsamen Bereich des Miteinanders rückt. Im Begriff auf dem Sprung zu sein bezeugt uns die Geste, die der Engel der Geschichte zeigt, dass es einen Moment des Atmens gibt, der im Sturm ihn nicht dem Engel verschlägt. Wenn der brausende Lärm des Fortschritts in der Katastrophengeschichte plötzlich abbricht, tritt eine Stille ein, die den Hauch des Atems ungelebten Lebens wahrnehmbar macht.
Dies geschieht in dem Augenblick, in dem die Botschaft des Engels der Geschichte, zwischen dem, was das Auge des Engels sieht, und dem, was sein Blick bezeugt, in der Schwebe bleibt. Um welchen Augenblick also handelt es sich? Sicher nicht um den, in dem der Engel der Geschichte den Fortschrittsgläubigen als ein Engel des Fortschritts erscheint. Sprechende Augen, beredte Blicke … in dem Augenblick, in dem der Engel der Geschichte sich in der Darstellung Angelus Suspensus vermittelt, wird die Chronologie des Fortschritts aufgehoben. Es ist eine eigentümliche Apokatastasis, Wiederherstellung, die aus den Trümmern der Katastrophengeschichte aufsteigt, wenn sie in der Jetztzeit, im Augenblick des Angelus Suspensus, rekapituliert, was dem Engel der Geschichte ins Gesicht geschrieben steht – und was die Maske des Engels des Fortschritts zu verhüllen sucht:
Resonanzräume zwischen Du und Du sind keine festen Orte, sondern lebendige Prozesse, die von der Bereitschaft zur Begegnung getragen werden. Das “Du” ist kein Zufluchtsort. Es ist keine Insel im reißenden Fluss der Geschichte. Es ist der Ruf, der sich an das Fragment wendet, der den Splitter aufruft, der sein Schweigen beredt macht. Dieses ‚Du’ verbindet die Trümmer mit dem Atem der Geschichte und eröffnet Resonanzräume, in denen Neues entstehen kann. Das “Du” ist kein Flüstern des Trostes; es ist ein Schrei. Es hebt das Zersplitterte, nicht um es zu heilen, sondern um ihm Stimme zu geben, die Antwort sucht. Resonanz. Im “Du” als Ansprache zeigt sich die Spannung eines neuen Wortes.
Wie klingt das “Du” inmitten des Sturms? Es klingt nach einem kargen Raum, in dem die Trümmer zu sprechen beginnen. Das “Du” wird darin zur Klinge, die die Hüllen einer Illusion zerschneidet, Geschichte sei Fortschritt. Es ruft in die verstummten Zeugen der Katastrophe hinein, um durchzudringen und die Trümmerlandschaft zum Klingen zu bringen. Dieses ‚Du’ ruft das Verschüttete und Verlorene in eine Nähe, die sonst unerreichbar bleibt.
„Kennst Du das?”, adressiert uns der Engel. Kennst Du den Augenblick, in dem der Funke aus der Reibung entspringt, nicht als zerstörerisches Feuer, sondern als Licht, das aus dem Schamfielen der Worte an Begriffen? „Schamfilen” – ein Wort, das sich wie ein Faden webt, der niemals hält. Es ist die Reibung der Worte, die die Kanten der Begriffe aufschürft, bis die Fransen des Sinns abfallen.
Das “Du” ist das Driften, in dem Nähe und Ferne, Schweigen und Schrei, Eintauchen und Zurückweichen sich vermitteln. Es ist der Punkt, an dem die Trümmer für die Suche des Auges Seh- und Wegmarken werden. Der Engel spricht nicht, um Antworten zu finden, sondern um sich der Frage zu stellen. Der Sturm weht, und das “Du” bleibt der Atem, der die Bewegung trägt.
Das “Du” ist keine Verheißung. Es ist Echo, ein stehender Klang, der nicht verstummt. Es bleibt in der Schwebe, in der die Katastrophe spricht und sich selbst der Erinnerung übergibt. So bleibt der Engel stehen, mit offenen Flügeln und aufgerissenen Augen. Das “Du”, der Ruf in die Trümmerlandschaft und in den Sturm. Dieser Ruf wird vernehmbar, wenn Augen sprechen.
Es ist eine merkwürdige Prüfung, der „Du” und „Ich” sich im Angesicht der Engel unterziehen können: Macht das „Ich” im Tableau des Engels des Fortschritts einen „Blinden Fleck”, dann hat das „Du” die Chance, als „Wir” dem Blick des Engels der Geschichte auf die Spur zu kommen. Dieses „Wir” ist kein statisches Kollektiv, sondern ein flüchtiger Moment der Resonanz, in dem die Spannungen zwischen den Perspektiven sichtbar werden. Resonanz bedeutet hier nicht Mitschwingen, sondern eine produktive Spannung, die sich zwischen unterschiedlichen Deutungen entfaltet.
Empfindet das „Ich” das Bild des Engels des Fortschritts als Schirm und Schutz gegen jenen Blick, der vom Engel der Geschichte ins Bild gesetzt wird, dann bleibt diese Resonanz aus. Die Maske des Fortschritts, ein zentraler Begriff in Benjamins Kritik an der Ideologie der linearen Entwicklung, verschleiert die Katastrophen, die sich in der Geschichte auftürmen. Diese Maske ist nicht nur individuell, sondern gesellschaftlich konstruiert – ein Ausdruck der Verblendung, die Katastrophen als notwendige Opfer auf dem Weg in die Zukunft rechtfertigt. In Benjamins Perspektive ist diese Verblendung weniger psychologisch als ideologisch zu verstehen: ein Mythos, der durchbrochen werden muss, um die Wahrheit der Geschichte freizulegen.
Der sprichwörtliche Augenblick des „Angelus Suspensus”, gleichermaßen von ihm angeblickt zu werden und ihm in die Augen zu schauen, stellt eine Unterbrechung der Chronologie dar – eine „Jetztzeit”, die sich aus der Vergangenheit speist und in die Gegenwart hineinwirkt. Anders als eine kontinuierliche Utopie ist die „Jetztzeit” bei Benjamin ein messianischer Moment, ein Bruch, in dem die Geschichte ihre unterdrückten Potenziale offenbart. Sie ist kein linearer Prozess, sondern ein Augenblick, der Geschichte als Kampfplatz neu interpretiert.
Diese Begegnung ist kein passives Empfangen, sondern ein Geben und Nehmen zwischen „Du” und „Du”. Das „Du”, wie es hier beschrieben wird, tritt in den Raum der Trümmerlandschaft ein, nicht als Trost, sondern als Anruf, der das Zersplitterte zum Sprechen bringt. Dieses „Du” ist eine Art Antwort auf den Blick des Engels, eine Stimme, die sich nicht mit Illusionen des Fortschritts zufriedengibt. Es adressiert die Trümmer, die in ihrer Fragmentierung eine neue Geschichte erzählen können, wenn sie aus der Perspektive der „Jetztzeit” betrachtet werden.
Doch auch diese Einladung bleibt nicht ohne Herausforderung. Der Text selbst – wie jede performative Darstellung – muss sich der Gefahr stellen, Lesende durch Hermetik oder Unklarheit auszuschließen. Benjamins eigener Stil fordert intellektuelle Anstrengung, will jedoch einen Leseverlust umgehen. Seine Texte laden die Lesenden ein, aktiv zu interpretieren, statt vorgefertigte Wahrheiten anzunehmen. Der „Angelus Suspensus” soll in diesem Kontext nicht als hermetische Ikonostase verstanden werden, sondern als ein Impuls, die Masken des Fortschritts kritisch zu hinterfragen und neue Resonanzräume zu schaffen.
Die Maske des Fortschritts fällt, sobald der Blick des Engels zum ‚Du’ wird – und in dieser Anrede kann eine neue Geschichte inmitten der Gewaltgeschichte beginnen – eine Geschichte, die nicht Fortschritt, sondern auch Brüche, Spannungen und Potenziale der Vergangenheit in Beziehung miteinander setzt. In dieser Begegnung liegt die Möglichkeit, die Trümmerlandschaft der Geschichte nicht nur zu betrachten, sondern als Resonanzraum zu begreifen, in dem Zukunft überhaupt erst denkbar wird.
Thomas Sojer
Robert Krokowski