Leere Gesten

Inspiration

Das Momentum der Geste in Kunst und Religion (4)

Es gibt ein großartiges aber auch schreckliches Tanztheaterstück von Pina Bausch. Das Stück Barbe bleu (Blaubart) ist deshalb schrecklich, weil es schonungslos zeigt, was aus Tanzen wird, wenn ihm der Geist ausgetrieben wird: leere Gesten. Pina Bausch ist hier gnadenlos. Es ist Tanztheater am Rande der Unerträglichkeit für Betrachtende, Zuhörende und Tanzende.

In Barbe bleu spielen Hampelengel mit Hampelmännern und umgekehrt. Sie zeigen Bewegungen, wie eben die von Bodybuildern, wenn sie ihre Posen wechseln – oder von Marionetten, wenn diese zu Boden sacken, weil eine Schere alle Fäden gleichzeitig durchschneidet.

Der Sekundenzeiger, der die leere Zeit taktet, zerhackt die Bewegungen der Tanzenden und der Opernmusik Bela Bartoks. Tanz und Musik ruckeln von Stillstand zu Stillstand wie Hampelfiguren, an deren Schnüren im Rhythmus eines Metronoms gezogen wird.

Hampelfiguren, Marionetten, Aufzieh-, Stehauf-, Wackel-, Pendel- und Wippfiguren, Roboter – ihr mechanisches Tun ist ohne Geist. Ein Beweger zieht an einer Schnur oder an Fäden, löst die Spannung eines Gummizuges, stößt an oder drückt Enter. Eine durch die Mechanik vorgegebene und von ihr geforderte Geste setzt die Figuren in Bewegung. Doch eine geistlose Bewegung, so verblüffend sie auch sein mag, hat mit inspiriertem Tanz nichst zu tun. Wenn Menschen mechanische Gesten machen wie eine Hampelfigur, dann agieren sie automatenhaft.

Das macht Pina Bauschs Tanztheaterstück Barbe Bleu so unerträglich. Es ist die perfekte Inszenierung uninspirierter Bewegungsabläufe, ein trostloses Geschehen. Nirgends im Ablauf des Hin und Her der Figuren findet sich eine Geste des Trostes. Denn eine solche kann nicht durch ein geist- und seelenloses mechanisches Tun ausgeführt werden. Es fällt schwer, in einem Bewegungsablauf ohne menschliche Umarmung Tanzen zu finden – auch wenn die Agierenden einander ununterbrochen in den Armen oder auf den Körpern hängen.

Barbe Bleu, Blaubart, ist eine Märchen-Figur, die Frauen wie Puppen gebraucht und verbraucht. Pina Bausch zeigt, dass sie es und wie sie es mit sich machen lassen. Nicht etwa in einem erotischen Spiel von submission und domination, von Unterwerfung und Beherrschung, sondern in mechanischer Wiederholung leerlaufender Akte.

Michail Bachtin hat einmal im Lachen eine revolutionäre Geste gesehen. Aber in Pina Bauschs Stück wirkt das Lachen der Frauen nicht befreiend. Der Herr im Hause wird zwar ausgelacht. Aber es klingt wie ein „aufgesetztes“ Lachen. Gespieltes Theaterlachen. Hier wird Pina Bauschs Blick hart und kalt. Sie setzt Frauen in Szene, die permanent gegen die Wand laufen. Bis sie an der Wand kleben bleiben. Blaubart selbst wird in all dem als Beweger in Szene gesetzt, als derjenige, der auf den Knopf drückt, die Fäden zieht, Frauen als Gliederpuppen herumschleudert und ablegt, sich auf sie setzt bis sie auch noch das letzte „Ach“ an Atem aushauchen und leblos vom Stuhl sinken.

Aber auch die agierenden Männer des Stücks bewegen sich mechanisch. Ihre Haltungen sind Prothesen, die sie steuern. Manche erscheinen wie Prototypen von Robotern aus einer Zeit, in der noch nicht die Prozessierung binärer Codes mit dem Prozess sprachlicher Inspiration verwechselt wurde.

Erstaunlich ist, wie ungeschickt sich die Figuren des Stücks bewegen, so kunstvoll sich hier und da Technik auch zeigen mag. Sie erfüllen das Schicksal, das sie verkörpern. Die sich beschleunigende Wierderholung des Immergleichen, von Umarmungen und ihrem Auseinanderfallen, finden sich auch in anderen Stücken Pina Bauschs: rasender Stillstand bis zur Atemlosigkeit. In Barbe Bleu ist das nicht nur trostlos. Das theatrale Einrasten eines Geschehens im Leerlauf schnürt den Zuschauenden die Kehle zu. Sie werden zu Zeugen ruppiger mechanischer Akte.

Es macht das Stück auf eine kalte Art fast obszön, wie Pina Bausch mit pornografischen Techniken spielt. Im seelenlosen technischen Hin und Her wird die Zeit gefickt. Demonstriert wird in zutiefst frustrierender Weise Abfuhrverhalten von sich Ausagierenden, die in leerer Zeit verloren sind. Ihre Erregung gleicht der präzisen Unruhe eines mechanischen Uhrwerks. Das weckt den Wunsch, es möge einfach aufhören. Doch wie wäre das möglich? Mit welcher Geste könnte dem Einhalt geboten werden?

Viele der Gesten im Stück selbst ähneln der Handbewegung Blaubarts, mit der er die Bewegungen der Agierenden und die Musik stoppt und startet. Eine Geste der Allmacht. Hier wird deutlich, wer Herr im Hause ist. Aber auch dies wirkt wie ein uninspiriertes Tun. Wäre dieser Allmächtige Gott, so wäre nicht ersichtlich, wie sein Tun ihm einen Grund geben könnte, sich daran zu erfreuen. Zudem ist Blaubart am Ende tot.

Wim Wenders, der Pina Bausch mit einem wunderbaren Film geehrt hat, zeigt in diesem Film viele Versionen inspirierter und inspirierender Tänze. Die Tanzenden spielen dabei durchaus mit mechanischen Gesten, aber eher Sinne einer mechané, wie sie Hölderlin verstand, mit begeistertem und begeisterndem Geschick. Eine Frau als menschliches Metronom, das Besteigen und kippen eines Stuhls, das Durchstampfen der Wuppertaler Schwebebahn, die Gesten der Jahreszeiten – dies alles zeigt Pina Bauschs Interesse an dem, was die Menschen bewegt.

In Barbe Bleu treibt Pina Bausch, deren andere Stücke Variationen über das Thema „inspirierte Gesten“ sind, Bewegungen ins Extrem des  Automatismus. Welch grandiose Leistung der Tanzenden, sich dem zu unterwerfen. Das Ergebnis bleibt aber ein unerträglicher leerlaufender Reigen, der sich letztlich mit den Vorführungen von Automatentheatern und Tanzautomaten berührt. Allerdings überzieht Pina Bausch das Geschehen nicht  auch noch mit dem Zuckerguss von Spieluhrmusik, die suggerieren soll, derartiges habe Geist und Seele.

Somit noch einmal die Frage: Könnte ein Gott solchem Geschehen den Atem des Lebendigen einhauchen? Ein Gott, dem nicht der Geist ausgetrieben wurde? Und welchen Glaubens bedarf es, darauf zu hoffen? In dieser Hinsicht ist Wim Wenders Glaubensbekenntnis sehr einfach: „Ich glaube an einen Gott, der uns mit freundlichen Augen beobachtet. Was für eine Form der hat, weiß ich nicht, was für einen Geist der hat, kann ich mir vorstellen.“

„Ich bin jung, meine Ohren hören Verheißungen, mein Geist ist machtvoll, meine Augen sehen Träume, meine Gedanken fliegen hoch und mein Körper ist stark.“ So ruft begeistert eine der Tänzerinnen in Pina Bauschs Stück „Vollmond“. Ist auch dies ein Glaubensbekenntnis – oder ein Bekenntnis zu den Möglichkeiten der Kunst?

Robert Krokowski