Begeisterung

Pneumaeffekte

Das Momentum der Geste in Kunst und Religion (3)

„Schwarmgeister“ und „Ketzer“ wurden Gläubige in früheren Zeiten genannt, wenn sie das rechte Maß des Glaubens nicht finden konnten. Wenn es Kunsttreibenden am richtigen Maß für ihr Tun mangelt, dann gelten sie auch heute noch schnell als verrückt. Gläubige und Kunsttreibende werden also für übersteigerte Glaubensbekundungen und übertriebene Kunstäußerungen „gemaßregelt“. Das Maß, mit dem gemessen wird, ist das der Normalität.

„Normalität“ zeichnet sich dadurch aus, dass nichts mit zweierlei Maß gemessen wird. Dieselben Maßstäbe sollen für alle gelten. Das kann das Versmaß in der Lyrik ebenso betreffen wie die Sittlichkeit von Glaubensäußerungen. Es sind immer Privilegierte, die darüber wachen, dass eine Norm erfüllt wird. Autorisiert dazu, „den Maßstab anzulegen“ werden sie von einer höheren Instanz. Sie begreifen sich als von dieser Instanz begnaded und sprechen im Namen „der Religion“ oder „der Wissenschaft“, „der Kirche“ oder der „Universität“, immer aber im Namen „der Wahrheit“. Im Rahmen des Glaubens sprechen sie letztlich im Namen Gottes:

„Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist, jedem unter euch, dass niemand mehr von sich halte, als sich’s gebührt, sondern dass er maßvoll von sich halte, wie Gott einem jeden zugeteilt hat das Maß des Glaubens.“ (Römer 12, 3)

Aber passt zu solcher Ermahnung zur Mäßigung durch den Apostel Paulus, was dieser ebenfalls im Brief an die Römer (12, 13) schreibt – dass es sich durchaus gebührt, sich von brodelndem Pneuma (τῷ πνεύματι ζέοντες) enthusiasmieren zu lassen? Das griechische „Pneuma“, das hebräische „Ruach“, das lateinische „Spiritus“, das deutsche „Geist“ – all diese Wörter werden immer wieder verwendet, um zu erklären, was „Enthusiasmus“ bedeutet. Gesten, die Enthusiasmus zum Zuge kommen lassen, werden oft als Gestikulationen wahrgenommen, als ein wildes und unkontrolliertes Gefuchtel mit den Händen. Glaubt man den Erzählungen, dann sind enthusiastische Gesten nicht ungefährlich. Da gibt es die Geschichte des Millionärs, der mit seinem Ellbogen ein Loch in ein Gemälde Picassos stößt. Allzu heftige Handbewegungen werfen auf ordentlich gedeckten Tischen Gläser um. Und für manche Beobachter wirken Enthusiasmierte, Begeistete, wie Berauschte – ähnlich wie die Jünger Jesu zu Pfingsten voll des Pneuma Hagion (πνεῦμα ἅγιον), des Heiligen Geistes.

Solches Gebaren galt und gilt oft als charakteristisch für Menschen, die für vernünftige Worte nicht zugänglich seien. Übersteigerter Enthusiasmus wurde und wird deshalb immer wieder mit Fanatismus in Verbindung gebracht. Die mit „vernünftigem Maß“ Urteilenden fragen sich und andere, was wohl in Menschen gefahren ist, die sich anmaßen, ihrem Enthusiasmus auf so überschwängliche Weise Ausdruck zu verleihen. Übertreibendes Gebaren galt lange als verwerflich. Und der Sieg des sogenannten „Oralismus“ über die Gebärdensprache ist nur ein Beispiel dafür, wie wirksam die Maßnahmen von Wortfanatikern waren, der Sprache das Medium auszutreiben, das sie bewegt. Dazu war der Einsatz aller Mittel recht.

Besonders erfolgreich war die Denunziation jener als Geistfanatiker, die im wirken von Pneuma und Ruach etwas am Werke sahen, was die ewige Gültigkeit des Wortes in Frage stellen konnte. Kunst mit ihrer Poiesis, ihrem Tun und Machen, setzt Neues und Anderes ins Werk. Damit kann sie zu einer Praxis führen, die in Bewegung bringt, was im Wort Gottes feststeht und durch es festgestellt wird. Dies allein reicht aus, Kunsttreiben als blasphemisch und letztlich als Teufelswerk zu betrachten – wenn Kunst denn nicht das Wort erfüllt und Kunstwerke das Wort Gottes nicht illustrieren. Jahrhunderte einer solchen „Beziehung“ zwischen Religion und Kunst hinterlassen in den Körpern der Agierenden Spuren. Und auch deshalb reagieren manche wohl auf einen Anflug von Geist, der die Wortgefüge ihres Glaubens in Unordnung versetzt und gewohnte Bedeutungen und Deutungen stört, mit dem Einsatz aller Maßnahmen und Mittel, die ihnen ihre Macht erlaubt.

Seit Gottsched in seiner „Kritischen Dichtkunst“ (1730) „Begeisterung“ als Lehnübersetzung für „Enthusiasmus“ verwendete, beginnt eine Scheidung im Wortgebrauch. Während zunächst „Enthusiasmus“ wegen seiner leichten Entzündbarkeit und vermeintlichen Nähe zum Fanatismus nach wie vor beargwöhnt wird, verbindet sich mit „Begeisterung“ die Hoffnung auf eine Ablösung der göttlichen Gnade der Schöpfung durch die menschliche Gabe des Schöpferischen, also – wie etwa Hölderlin es sieht – durch poetisches Geschick.

Verzichtet man auf die Instrumentalisierung von „Enthusiasmus“ und „Begeisterung“ zu religiösen Kampfbegriffen gegen Gefährder des orthodoxen Glaubens, dann bedeuten sie doch zunächst gar nichts anderes als Inspiration. Diese kann sich verwirklichen, wenn die durch Begeisterung gegebenen Möglichkeiten zur Entfaltung gebracht werden. Gesten können das. Im Tanz und generell in der Kunst findet sich der Spielraum, in dem Inspiration freigesetzt wird. Je beherrschter Gesten eingesetzt werden, je weniger Bedeutungsspiel sie haben, je genauer sie erfasst, begriffen und instrumentalisiert werden, desto dienstbarer und nützlicher sind sie für die Erfüllung kommunikativer Aufgaben. Also etwa für kirchliche Propaganda zur Denunzierung von Gläubigen als Schwarmgeister, die vom rechten Glauben abweichen.

Es lohnt eine Vergewisserung solcher Zusammenhänge, denn die kirchliche Feindschaft gegen eine Kunst, die nicht das Wort Gottes erfüllt, sondern sondern aus eigener schöpferischer Begeisterung hervorgeht, ist mitnichten Vergangenheit. Warum aber ist der Geist der Kunst, warum ist Verwirklichung künstlerischer Inspiration so gefährlich?

Gesten, die Spiel haben, können anecken. Dabei ist es aber erstaunlich zu sehen, wie ein angestoßenes Ding im Fallen gefangen wird, von derselben Hand, die ihm den Stoß versetzte. Und es ist großartig zu erleben, wie Körperbewegungen, wenn zwei beim Tanzen aus der gemeinsamen Achse geraten, dies mit einer behenden Bewegung, einem geschickten Zug der Hand, einem leichten Dreh des Fußes ausgleichen. Das geschieht nicht bewusst und auch nicht „automatisch“ oder reflexhaft. Es geschieht durch „geistesgegenwärtige Bewegungen“. Demzufolge zeugt eine bewusst getane Bewegung nicht unbedingt von Begeisterung, während eine unbewusste ausgeführte Bewegung durchaus geistvoll sein kann.

Wenn Luther seine Gegner, besonders die radikaleren Betreiber der Reformation, etwa sozialrevolutionäre Strömungen (Thomas Münzer und die Wiedertäufer) als „Enthusiasten“ bezeichnet, dann ist dies wahrlich nicht anerkennend gemeint: Ein Enthusiast sei jemand, „der vom Wort, Sakrament, Predigtamt nichts hält“, „ein Geister und Enthusiast, der nicht will unter Gottes Wort oder der Heiligen Schrift, sondern Richter und Meister über sie sein aus dem Geist“ (1545).

Man solle sich distanzieren von jenen, „so sich rühmen, ohne und vor dem Wort den Geist zu haben, und dadurch die Schrift richten, deuten und dehnen ihres Gefallens“ gemäß (1537).

Wenn sich Enthusiasten, Fanatiker, Schwärmer also auf persönliche Inspirationen berufen, dann missachten oder gar verachten sie die kirchlichen Autoritäten.

Die Geschichte wiederholt sich. In ihrer Wiederholung zeigt sich, wie und warum bekämpft werden muss, was für religiöse Institutionen gefährlich ist. Was Luther in den Enthusiasten sieht, das sehen die Kirchenväter in den Gnostikern – Gefährder des von Autoritäten verkündeten Gotteswortes. Denn diese mobilisieren gegen die Verwaltung des rechten Glaubens jenen Geist, den die Verwalter den Gläubigen austreiben müssen, damit sie zu Gefäßen eines Glaubens werden in dem Gott, Geist und Logos eins sind. Wer also, wie Kunsttreibende, solche Einheit auflöst, macht sich der als Ketzerei begriffenen Häresie schuldig. Irenäus gibt in seiner Schrift über die gnostischen Häresien das treffende Bild solchen Tuns. Wer das Mosaik, das ein Bild der Schöpfung im Sinne Gottes zeigt, auflöst, um aus den Einzelteilen ein anderes Bild zu machen, produziert Phantasiegebilde anstatt das ins Werk zu setzen, was als Maßstab und „Richtschnur“ des Glaubens gilt:

„Ebenso wird der, welcher die Richtschnur der Wahrheit unerschütterlich in sich festhält, die er in der Taufe empfangen hat, zwar die Namen und Redewendungen und Parabeln aus den Schriften, aber nicht ihre gotteslästerlichen Hirngespinste anerkennen. Zwar wird er die Mosaiksteinchen erkennen, aber den Fuchs nicht für das Bild des Königs halten. Er wird jeden der Aussprüche an seine gehörige Stelle setzen und dem Körper der Wahrheit sie einverleiben, aber ihre Phantasiegebilde bloßlegen und als haltlos dartun.“ (Irenäus von Lyon, Contra Haereses, 1. Buch, 9. Kapitel, 4. Abschnitt)

Die Gnostiker waren also für die Kirchenlehrer, die in den Anfängen des Katholizismus um die Deutungshoheit des Wortes Gottes rangen, so gefährlich wie die Enthusiasten für Luther in den Anfängen des Protetantismus. Es ist das Geistige, das die Verfechter des religiösen Logozentrismus bekämpfen müssen. Diesen scheint der Gedanke unerträglich zu sein, der Menschen ein künstlerisches Geschick zubilligt. Inspirierte Menschen, in denen Geistiges am Werke ist, scheinen unmittelbar die Macht kirchlicher Institutionen anzugreifen. Kreativität darf nur dem Wort Gottes zugesprochen werden – weil nur über dieses eine Verfügungsgewalt jener Mittler und Übermittler besteht, die sich als Statthalter, Bewahrer und Wächter dieses Wortes auf Erden verstehen. Sie wähnen sich als durch die Gnade Gottes Eingesetzte dafür sorgen zu müssen, dass der Geist auf jenen kaum spürbaren Hauch reduziert bleibt, der die Übermittlung des Wortes ermöglicht, als Trägermedium der Wortes, ausgeschickt vom Mund wie die Engel von Gott, lediglich Träger der Botschaft.

So findet sich denn auch in der „Genauen Darlegung des orthodoxen Glaubens“ des Johannes von Damaskus (8. Jhd.) in der Erläuterung des Geistigen als Pneuma kaum noch eine Spur von jenen  gnostischen Pneumata, die Irenäus von Lyon (2. Jhd.) noch sorgfältig dokumentierte:

„Das Wort Pneuma ist vieldeutig. Es bedeutet den Hl. Geist. Es heißen aber auch die Kräfte (Wirkungen) des Hl. Geistes Pneumata. Pneuma [heißt] auch der gute Engel, Pneuma auch der Dämon, Pneuma auch die Seele. Bisweilen wird auch der Verstand Pneuma genannt. Pneuma [heißt] auch der Wind, Pneuma auch die Luft.“ (Johannes von Damaskus, Expositio fidei, 1. Buch, 13. Kapitel)

Vom Weiblichen und Mütterlichen im Pneumatischen, das Irenäus noch aufspürt, ist hier nicht mehr die Rede – nur noch von der Mutter Jesus als Gefäß des Heiligen Geistes, gereinigt durch das Wort (Irenäus von Lyon, Contra Haereses, z. B. 1. Buch, 30. Kapitel).

Für die Frage nach dem Momentum der Geste in Kunst und Religion ist dies wichtig, weil genau dies der Zusammenhang ist, der bis in die Gegenwart weiterwirkt, wenn Gesten auf Zeichen reduziert werden, Geist auf das Wort und Engel auf ihre Rolle als Überbringer des Wortes Gottes. Die performativen Arbeiten von Marlen Wagner weisen auch darauf hin, wie sehr die Bedeutung einer Geste vom Blickwinkel ihrer Betrachtung abhängt, und dass dabei mitunter aus dem Blick gerät, wie sie zeigt und aus welcher Bewegung dieses Wie hervorgeht.

Robert Krokowski