Drei Engel hoch oben

Judith-Lucretia-Portal am Alten Rathaus in Chemnitz; links Judith, rechts Lucretia; Fotos: Andreas Praefcke, Lizenz CC BY 3.0, via Wikimedia Commons

Der Tuchmacher und -händler Merten Groß versteckt seinen Reichtum nicht, als er sein Haus dem Rathaus gegenüber am Markt bauen lässt. Das Portal, das heute den Eingang zum Seigerturm das Alten Rathaus bildet, schmücken oberhalb der Sitznischen zwei Skulpturen antiker Frauenfiguren. Judith und Lucretia geben dem Portal seinen Namen, verkörpern Treue und Mut, gepaart mit Wehrhaftigkeit. Beide Frauen tragen ein Schwert, Judith richtet damit den assyrischen Eroberer Holofernes, Lucretia richtet das Schwert (eher ein langer Dolch oder ein Kurzschwert) gegen sich selbst und tötet sich nach ihrer Vergewaltigung. In der Folge beider Taten werden nach Kämpfen und Krieg Fremdherrschaft und Diktatur beendet.

Engel mit Wappen und Jahreszahl; Judith-Lucretia-Portal am Alten Rathaus in Chemnitz; © Fraktalwerk

Am Scheitelpunkt des Portalbogens, unterhalb dreier Friese und der dreieckigen Verdachung präsentieren drei Engel ein Wappenschild mit der Jahreszahl 1559, dem Datum der Entstehung des Hauses. Inwieweit die auffallende Häufigkeit der Zahl drei für den Tuchhändler wichtig gewesen sein mag, bleibt ungewiss. Einig scheinen sie sich jedoch nicht zu sein, die Engel. Der mittlere hält den Schild mit beiden Händen vor sich. Nur Kopf, Brust und Teile der Flügel sind von ihm zu sehen, den Rest seines Körpers verdeckt der Schild. Die beiden Engel rechts und links von ihm blicken weder ihn noch mögliche Betrachter direkt an und schauen auch aneinander vorbei. Mit jeweils einer Hand fassen sie den unteren seitlichen Rand des Schildes. Die andere jedoch legen beide an die Schulter des mittleren Engels – so, als wollten sie ihn zurückdrängen. Ob der geöffnete Mund des so behandelten ein protestierendes „Oh“ ausstößt oder deutlicher wird, kann man nur mutmaßen.

Oder findet dort oben etwas völlig Anderes statt? Droht der schwere Schild den mittleren Engel aus dem Gleichgewicht zu bringen und zieht ihn vornüber? Droht er gar von seinem luftigen Sims zu stürzen? Und entfährt dem geöffneten Mund ein Schreckenslaut ob der drohenden Gefahr? Dann greifen die beiden anderen hilfreich zu, stabilisieren den Schild und stützen, halten ihren Gefährten. Doch nicht nur ihn beschützen sie, auch die Menschen, die am Portal vorüber oder durch es hindurch gehen. Verhindern wollen sie, dass der Schild herabstürzt. Den Blick schräg nach unten gerichtet halten sie Ausschau nach Passanten. Viel Platz ist nicht dort oben für diese Rettungsaktion und plötzliche, heftige Bewegungen …

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Marlen Wagner