Und ein Sturm weht vom Paradiese her … 

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Engel der Geschichte © Marlen Wagner

… und er stößt die Tore des Paradieses weit auf. Seinen Ursprung hat er am Baum der Erkenntnis. Er baut sich auf, nachdem die verbotene Frucht gepflückt wurde. Bewegte bisher nur sanfter Wind Blätter und Früchte, wird er nun stärker und stärker. Er fegt mit Brausen durch das Paradies, sprengt dessen Tore auf. 

Ein namenloser Engel, die Flügel gefaltet dem Tore zugewendet, hört nur noch ein protestierendes Quietschen der bisher ungenutzten Angeln – dann wird er hindurchgerissen vom Sturm. Voller Entsetzen reißt er die Augen weit auf, öffnet den Mund zu einem protestierenden Schrei. Fortgerissen von seinem Platz, von seiner Arbeit, treibt er mit geöffneten Flügeln im Sturm, den Blick sehnsüchtig auf die Stelle gerichtet, wo eben noch die Pforten des Paradieses ihm Heimat boten. 

Ein Engel der Leideform – handlungsunfähig. Unfähig, sich zu bewegen, gar zu handeln, verharrt er in dem Zustand, in dem ihn der Sturm gefangen hält. Er wird getrieben durch das, was es vor dem Sturm nicht gab: ein Außerhalb des Paradieses. Eine Welt bildet sich, und er ist Zeuge – von Zeit, von Geschichte. Dies nun ist seine Aufgabe.

Seine Flügel verbleiben ausgespannt, so wie in jenem Bruchteil einer noch nicht bestehenden Zeit, als der Sturm ihn erfasste und er sich mühte, ihm standzuhalten, doch mitgerissen wurde. Auch seine Augen kann er nicht schließen, vor dem, was er zu sehen gezwungen bleibt. In hilfloser Paralyse, seiner Fähigkeit zu fliegen beraubt, bleibt ihm nur, seine neue Aufgabe zu erfüllen: zu sehen, zu bezeugen. 

Vor den Toren jedoch wachen nun andere Engel, Cherubim, die Flügel dem Paradiese zugekehrt, den wachsamen Blick nach außen gerichtet, das blanke flammende Schwert zur Abwehr erhoben. 

Marlen Wagner