Der Engel der Geschichte in Hohenems

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Angelus Hohenems, Tom Sojer

Angelus suspensus. Essays über die Geduld der Engel (1)

In Hohenems im österreichischen Vorarlberg steht an dem Punkt, wo einst die „Judengasse“ und die „Christengasse“ zusammentrafen (heute die Schweizer Straße und die Marktstraße), eine Skulptur des Hohenemser Künstlers Günther Blenke. Sie besteht aus dem Stück eines verbrannten Baumes, in den ein Blitz eingeschlagen hat. Das Holzstück wurde von Franz Sauer in der Schweiz gefunden. Günther Blenke hat das Holz mit rostigen Flügeln versehen. Die Skulptur wird von einem kreisförmigen Brunnen mit zwei Metern Durchmesser umfasst. Der Titel der Skulptur ist Engel der Geschichte. Der Engelbezug hat zwei Anknüpfungspunkte: Der Standort befindet sich am Eingang des früheren Gasthauses Engelburg, das der mütterlichen Familie von Stefan Zweig, den Brettauers, gehörte. Die Familie Brettauer-Zweig ist eine der vielen jüdischen Familien, die sich von Hohenems aus über Europa und die Welt verstreuen. Zu diesen zählen auch die Brunners, von denen die Ausstellung „Die letzten Europäer“ im Jüdischen Museum Hohenems 2020 erzählte. Der Titel der Ausstellung bezieht sich auf die folgende Briefstelle von Walter Benjamin, die dieser an seinen Freund Stephan Lackner schrieb:

„Man fragt sich, ob die Geschichte nicht im Begriff ist, eine geistreiche Synthese von zwei nietzscheanischen Begriffen zu schmieden, nämlich die des guten Europäers und die des letzten Menschen. Das könnte den letzten Europäer ergeben. Wir alle kämpfen darum, nicht zu einem solchen zu werden.“ (Benjamin, Gesammelte Briefe VI, Suhrkamp 2000, 442)

Mit der Engelburg und den mahnenden Worten zu „den letzten Europäern“ knüpft die Skulptur die Verbindung zwischen der (jüdischen) Geschichte der Stadt Hohenems und jener berühmten IX. These Walter Benjamins Über den Begriff der Geschichte, in der Benjamin auf das Bild Angelus Novus von Paul Klee Bezug nimmt.

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Angelus Novus, Paul Klee
Fotograf: Christian Mantey, Public domain, via Wikimedia Commons

Die These IX lautet:

„Mein Flügel ist zum Schwung bereit 
ich kehrte gern zurück
denn blieb ich auch lebendige Zeit 
ich hätte wenig Glück.“
Gerhard Scholem, Gruß vom Angelus


„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ (Benjamin, Gesammelte Werke I/2, Suhrkamp 1991, 697–698)

Die Skulptur Günther Blenkes gibt eine weitere Version bildnerischer Darstellung und auch Interpretation des Themas des „Engels der Geschichte“, wie zuvor z. B. Arbeiten HAP Grieshabers, Heidrun Feistners, Anselm Kiefers. Jede künsterische Arbeit tritt im Zusammenhang der These Benjamins auch in Beziehung zu Klees Bild. Und da Walter Benjamin das Bild seines Engels der Geschichte in seiner These auch mit Worten zeichnet und mit Begriffen verbindet, ergibt sich ein besonderer Zusammenhang. Dieser überträgt sich gleichsam auf jede Version, die künstlerisch vom Engel der Geschichte gegeben wird, sei es als Skulptur oder Zeichnung oder Druckgrafik, sei es als Installation, Performance oder Tanz oder als literarischer Text.

Diesen besonderen Zusammenhang nennt Walter Benjamin selbst „Konstellation“ oder auch „Konfiguration“. Es handelt sich dabei um Lagen und Verbindungen, ja um Montagen und Konstruktionen aus Materialien und Formen, Bildschichten und Ideen, Bedeutungen und Fragestellungen. Sie können als Kunstwerke und Texte, aber auch als mehrdeutige Traumbilder oder zweideutige Vexierbilder, als Allegorien oder „dialektische Bilder“ in Erscheinung treten. Hierbei ist die Form des „dialektischen Bildes“ für Benjamin besonders interessant. Und vermutlich hat er seine IX. These über den Engel der Geschichte als solches verstanden. Ein dialektisches Bild ist für Benjamin das Bild, „worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt“ (Benjamin, Gesammelte Schriften V/2, Suhrkamp 2023, 576 f.).

Kunstwerke können solche Konstellationen sein – und damit in der Jetztzeit buchstäblich einen Augenblick der Erkennbarkeit ermöglichen, in dem diejenigen, die ein Kunstwerk betrachten, sich das in ihm Dargestellte „vergegenwärtigen“: Sie können sich gleichsam im Blickwinkel des Kunstwerks finden und aufspüren, was sie aktuell „angeht“. Sie finden sich, mit Benjamins Worten, von im Kunstwerk durchgearbeiteten Geschichtlichem und Geschichteten „gemeint“.

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Der Engel der Geschichte, Skulptur von Günther Blenke, Hohenems/Österreich, © Marina Höfler

Günther Blenkes Version des Engels der Geschichte spricht die Betrachtenden auf besondere Weise an. In seiner Skulptur steckt buchstäblich das „Blitzhafte“ einer Konstellation aus Materialien eines Naturprozesses und industriellen Fertigungsmaterialien, angebranntes Holz und verrostetes Eisen. Erstaunlich bleibt, dass die Materialien jedem Wind und Wetter ungeschützt ausgesetzt standhalten. Der verkohlte Holzteil erinnert an Yakisugi, eine traditionelle japanische Technik zur Holzkonservierung durch Verkohlung. Gleichzeitig suggeriert die rostige Patina auf dem Stahl, der ins Brunnenwasser reicht, die Preisgabe an den Korrosionsprozess, und verheimlicht die darunterliegende witterungsbeständige Sperrschicht. So werden Konstellationen aus Fortschritt und Verfall überraschend neu konfiguriert: Naturgeschichte wird mit menschlicher Geschichte im Bilde einer Botenfigur verbunden, dem Engel der Geschichte, der unterschiedliche Aspekte von Geschichte, Fortschritt in der Geschichte und Ende der Geschichte, Trümmerhaftigkeit und Katastrophe „verkörpert“. Und diese Verkörperung wird in Teilen selbst zu einem Vexierbild: Zum Beispiel mit der Frage: Welches Gesicht zeigt diese Botenfigur den Betrachtenden, die ihnen als Engel der Geschichte sowohl vom Aufstieg und Fall der Natur und vom Fortschritt und Verfall der Menschengeschichte in der Natur kündet?

Eine einfache aber auch provozierende Antwort, die Günther Blenkes Skulptur auf diese Frage geben könnte, wäre: Es handelt sich um einen Engel der Geschichte, der sein Gesicht verloren hat. Als ob er von einem Blitz herabgeholt wurde, der ihn im Augenblick des Einschlags in eine trümmerhafte Chimäre aus Naturprozess und Kulturgeschichte verwandelt hat, eine Art Mischwesen, in dem Allegorisches und Symbolisches blitzhaft verschmolzen werden. Derart könnte es sich auch um ein Traumbild vom jähen Ende und blitzhaften Abbruch der Geschichte handeln, denn in der Wirklichkeit der Betrachtenden ist beide ja (noch nicht) eingetreten … auch wenn Holocaust und Atombombenabwürfe historische Ereignisse der vergangenen Katastrophengeschichte sind.

Das Alptraumhafte und Vexierbildhafte der Skulptur von Günther Blenke könnte sich im Zusammenhang einer solchen Antwort gerade im Fehlen des Antlitzes des Engels in der Skulptur zeigen. Ein Antlitz, das sich nicht mehr zeigt oder das nur noch das Nichts zeigt? Oder doch ein Aspekt von Hoffnung, insofern – wie ein Interpret sagt – in der Skulptur das „Astloch wie ein weit aufgerissenes Auge zurück in die Geschichte blickt“ (um aus ihr zu lernen?) oder gar eine „Öffnung“, ein Ausblick auf ein Anderswo, jenseits von Geschichte als Leidensgeschichte (als theologisches Versprechen)? Benjamin selbst war in seinen Thesen über den Begriff der Geschichte hinsichtlich des Hegens von Hoffnungen skeptisch. Aber: „Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.“ (These VI, Benjamin, Gesammelte Werke I/2, Suhrkamp 1991, 695)

Ein solcher Geschichtsschreiber „erfaßt die Konstellation, in die seine eigene Epoche mit einer ganz bestimmten früheren getreten ist. Er begründet so einen Begriff der Gegenwart als der Jetztzeit, in welcher Splitter der messianischen eingesprengt sind.“ (These A des Anhangs) Bietet die Skulptur Günther Blenkes ein Geschichtsbild, das von dieser Hoffnung kündet? Kann sie womöglich für manche Betrachtende selbst eine Art messianischer Splitter in einer Jetztzeit sein, in der für einen Augenblick die Katastrophengeschichte unwirksam wird? Ein vom Fortschritt und/oder aus heiterem Himmel letztlich plötzlich „abgeschossener“ gesichtsloser Engel der Geschichte – wäre dies eine Allegorie des Endes der Katastrophengeschichte?

Das gesichtslose Wesen im Zentrum von Hohenems führt uns damit auch nach Venedig. Dort bespielt aktuell die belgische Künstlerin Berlinde De Bruyckere zur diesjährigen Kunstbiennale die Basilika San Giorgio Maggiore. Im Fokus der Ausstellung stehen die drei überlebensgroßen Erzengel-Skulpturen City of Refuge III. Die drei Erzengel werden von schweren zerrissenen Fellmänteln umhüllt wie verhüllt. Trotz der materiellen Schwere zeugen die Wesen von einer zerbrechlichen Leichtigkeit und drohen jeden Moment zu kippen.

Während das Gesicht des Engels Günther Blenkes in Hohenems verloren ist, bleiben die Gesichter der Erzengel in Venedig verhüllt. In beiden Fällen fehlt das Antlitz. Außerdem werden dem Engel der Geschichte die Flügel weit auseinander gerissen, während die schauderhaften Gestalten von De Bruyckere kaum die Flügel zu heben vermögen. Beide Engelsskulpturen weisen somit auf ihre je eigene Art auf Verlust von Freiheit hin und verkörpern den Zustand des Ausgeliefertseins: dem Sturm bzw. der Schwerkraft durch den gewichtigen Stoffbehang. Stärker als Hohenems zeigt sich in Venedig mit den City of Refuge III eine Ästhetik des Alptraumes, des Schauderhaften und Surrealen. Was Berlinde De Bruyckere mit ihrer visuellen Dramaturgie zuspitzt, lässt vielleicht auf kaum wahrgenommene Resonanzen im Hohenemser Engel der Geschichte hinhören: Entgegen aller Alptraumakzente fügt der Engel sich einerseits idyllisch in die Hohenemser Innenstadt ein, trägt aber andererseits einen beunruhigende dystopischen Zug vom Aufwachen in sich – und zwar durch die Öffnung, die nicht nur einen Durchblick gewährt, sondern auch die Möglichkeit eröffnet, mit etwas konfrontiert zu werden, das man weder erwartet noch im Alltag haben will. Benjamin schreibt dazu in These IX: „Sein Mund steht offen.“ Ein offengelegter Mund spricht nicht, er schweigt, jedoch anders als ein geschlossener Mund. Der aufgerissene Mund wird zur sprachlosen Geste und adressiert gerade im Ausbleiben des Wortes, durch schrilles Schweigen. In sein Schweigen senkt sich eine Gewissheit als dröhnende Wahrheit: Die, die verstummt sind, hören nicht auf zu sprechen. Sie sprechen im Traum, an den Schwellen und Rändern der Wirklichkeitsgrenzen. Nun stellt sich in der Grenzstadt Hohenems die Frage, ob der Engel damit als Metapher für die Stadt oder die Stadt als Metapher für den Engel stehen kann. Auf jeden Fall zeugt Hohenems dafür, dass Überschreiten (μεταφορά-μετάληψις) einer Grenze über Leben und Tod entscheiden kann.

In diese Dramatik stürmt der Engel der Geschichte und lädt in die Anderswelt, wo statt vertrauten Gesichtern das Unheimliche öffnet – oder das Antlitz des Todes, die facies hippocatica, sich hinter einem Schleier verbirgt oder auf einem Sudarium in Erscheinung tritt. Steht doch Gesichtsverlust auch für eine Situation oder eine Lage, in der jemand bloßgestellt, beschämt, geschmäht und verächtlich gemacht wird. Es ist der Verlust von Ehre, Ansehen und Respekt. Warum hat dieser Engel an diesem Ort an der Grenze zwischen Österreich und der Schweiz, wo so viele Menschen auf der Flucht vor der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ihr Leben verloren haben, kein Gesicht mehr? Insofern wäre zu fragen, inwiefern der Gesichtsverlust eines Engels der Geschichte nicht vom Abbruch des Leidens kündet, das sich in Trümmern aufhäuft, und damit auch vom Ende der Katastrophengeschichte, in der es den Menschen auferlegt wird. Dann könnte Günther Blenkes Engel der Geschichte auch für das stehen, was Walter Benjamin mit Karl Kraus rätselhaft benennt: „Ursprung ist das Ziel“. Übrigens hat Benjamin auch Karl Kraus einen „neuen Engel“, genannt: „Vielleicht von jenen einer, welche, nach dem Talmud, neue jeden Augenblick in unzähligen Scharen, geschaffen werden, um, nachdem sie vor Gott ihre Stimme erhoben haben, aufzuhören und in Nichts zu vergehen.“ (Benjamin, Gesammelte Werke II/1, Suhrkamp 1991, 367)

Walter Benjamin hat nicht zufällig das Antlitz gewählt, um die Verfalls-, Leidens- und Katastrophengeschichte sich in ihm spiegeln zu lassen:

„Während im Symbol mit der Verklärung des Unterganges das transfigurierte Antlitz der Natur im Lichte der Erlösung flüchtig sich offenbart, liegt in der Allegorie die facies hippocratica der Geschichte als erstarrte Urlandschaft dem Betrachter vor Augen. Die Geschichte in allem, was sie Unzeitiges, Leidvolles, Verfehltes von Beginn an hat, prägt sich in einem Antlitz — nein in einem Totenkopfe aus.“ (Benjamin, Gesammelte Werke I/1, Suhrkamp 1991, 343)

Das „Englisch Antlitz“, in das sich das Gesicht eines Totenkopfes verwandeln könnte – es fehlt in Günther Blenkes Skulptur. An der Stelle des Antlitzes – gähnt dort ein abgründiges Loch oder öffnet sich dort die Möglichkeit von Erlösung? Und wenn das Gesicht fehlt – wohin „blickt“ dann der Engel der Geschichte?

Die Fragen stellen sich. Um den Spuren weiter zu folgen, in künstlerischen Versionen, mag es interessant sein, im Zusammenhang mit Bildern vom Engel der Geschichte über Traumgesichte und Gesichter des Engels nachzudenken. Hier führt eine Spur zur Frage, wem oder was der Engel der Geschichte sein Gesicht zuwendet, wen dessen Blick adressiert – und warum am Ende der Geschichte vielleicht nicht mehr.

In der Sprache der hebräischen Bibel wird die Vergangenheit mit dem Wort lefanim, lifne bezeichnet. Es handelt sich um die Verbindung der Präposition l, die die Bedeutung „vor“ haben kann, mit dem Nomen panim (Pl.) mit der Grundbedeutung „Vorderseite, Gesicht“. Die Wendung lefanim, lifne bedeutet also „vor dem Antlitz“. Was dies für das Bild Klees, das Bild Benjamins und die Skulptur Blenkes bedeutet, für die Lektüre der These über den Engel der Geschichte als Traum- und Vexierbild, das wird sowohl für die Interpretation als auch für die weitere künstlerische Arbeit mit den darin enthaltenen Ideen und Konfigurationen von Geschichte interessante Spuren bieten. Ihnen gilt es zu folgen.

Robert Krokowski
Thomas Sojer