TS: Der Angelus Novus ist eine Aquarellzeichnung und, wenn ich richtig informiert bin, mit 31,8 mal 24,2 cm etwas größer als ein A4-Blatt. Walter Benjamin kaufte sie für heute umgerechnet 500 Euro. Zuerst lagerte Benjamin sie bei Scholem, dann versteckte sie Georges Bataille in der Nationalbibliothek in Paris, nach Benjamins Tod kam sie über Adorno nach New York und schließlich ist sie seit Kriegsende in Jerusalem. Die Reise des Bildes liest sich wie eine kleine Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts. Was sah Benjamin, als er auf die Zeichnung schaute?
RK: Den Engel der Geschichte. In der neunten seiner Thesen „Über den Begriff der Geschichte” sagt er es. Aber was sehen wir, wenn wir auf Klees Zeichnung schauen und Benjamins Text lesen? In Benjamins Sinn eine Konfiguration aus Zeichnung und Text, die zusammen mit unserer Betrachtung das Bild eines Angelus Suspensus auftauchen lassen. Es zeigt eine Geste, die Stillstand und Bewegung verbindet. Der Engel muss erdulden, vom Sturm unaufhaltsam in die Zukunft einer Zeit getrieben zu werden, in der es immer so weitergeht. Aber er verkörpert auch das Warten auf den Augenblick, in dem zerstörerische Gewalt und Katastrophen ein Ende finden. Deshalb beschreibt Benjamin den Engel der Geschichte nicht nur als einen stillgestellten, sondern auch als einen innehaltenden. Der Sturm ist so stark, dass der Engel seine Flügel nicht mehr gebrauchen kann. Er ist einer Gewalt ausgeliefert, deren Auswirkungen er sich nicht entziehen kann. Aber der Engel der Geschichte ist kein Kinderdrache aus Papier, der weggeweht wird, wenn dem Kind die Halteschnur aus den Händen gleitet. Vielmehr kann der Engel sich mit ausgebreiteten Flügeln auf die Art und Weise am Himmel halten, die das Bild Angelus Novus von Paul Klee zeigt.
TS: Bedeutet dieser „Sturm”, dass der Engel in Bewegung und Stillstand festgehalten wird? Der Sturm war Chaos und Stabilität? Kann das als Paradox verstanden werden, vielleicht als dialektisches Gedankenspiel? Aber was soll damit zum Ausdruck gebracht werden?
RK: Benjamin bezeichnet den Sturm zunächst einfach als „Fortschritt”. Er schätzte die agudeza por ponderación misteriosa, den Scharfsinn, den Witz oder Esprit der Darstellung von Zusammenhängen in dialektischen Bildern. In diesen sind allegorische Darstellungen aufgehoben – unwirksam gemacht und bewahrt zugleich. Indem Benjamin das concepto der ponderación misteriosa Baltasar Graciáns beerbt, rückt er den Engel der Geschichte als Figur in eine Konfiguration, in der das Geschick des Engels in der Schwebe gehalten wird: Der Angelus Novus wird angesichts der Gefahr, die ihn zum Angelus Satanas, zum gefallenen Engel machen könnte, zu einem Angelus Suspensus. Als Vorbote der Erlösung gelingt es ihm, der Gewalt zu widerstehen, der er selbst – und dies auch im Sturm des Fortschritts – ausgesetzt ist. Es el sujeto sobre quien se discurre y pondera/Es ist das Subjekt, das durchdacht und abgewogen wird (Gracián, Agudeza y arte de ingenio, Discurso IV, 20). Dies klingt geheimnisvoll. Aber das Bild des Engels der Geschichte, das Benjamin in seiner These zeichnet, rekapituliert lediglich, was dieser in seinen Studien zum barocken Trauerspiel, in seinen Essays zu Franz Kafka und Karl Kraus, zum epischen Theater Brechts, zum Surrealismus und zur Traumarchitektur der Pariser Passagen erkundet hatte: Wie ist angesichts subjektiv und objektiv erlittener Gewaltverhältnisse deren Erkenntnis möglich – und gibt es begründete Hoffnung, dass eine Gewalt walten kann, die ungerechte und zerstörerische Gewalt unwirksam macht? Gibt es eine Möglichkeit auf Wiederherstellung, Auferstehung, Restitutio, Apokatastasis – also das zu tun, was der Engel der Geschichte „möchte”: verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen?
TS: Ist der Angelus Novus/Suspensus also ein Symbol für Hoffnung auf Erlösung und Wiederherstellung? Das erinnert mich an die Kabbala mit ihrer Lehre vom „Bruch der Gefäße” am Anfang der Schöpfung und dem Ziel allen Lebens, das Zerschlagene gemeinsam neu und anders zusammenzufügen, oder auch an die japanische Kunst des Kintsugi, bei der zerbrochene Gefäße wieder zusammengefügt und die Bruchstellen vergoldet werden.
RK: Symbol? Allegorie? Dialektisches Bild? Vexierbild? Der latente Wunsch, der das Bild des Angelus Novus als Engel der Geschichte liest, zeigt sich im Angelus Suspensus auch als Traumbild. Aus offenem Mund und in beredtem Schweigen dröhnt die Wahrheit der Gewalt. Das Bild verdichtet die stumme Klage des Engels über das Leid, das ihm in die Ohren dringt, weil es aus dem Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel schreit. Wenn Scholem, der das Bild Klees für Benjamin aufbewahrte, in seinem Gedicht Benjamin vom Angelus grüßt, dann mit der Botschaft, dass der Flügel des Engels „zum Schwung bereit” sei. Das Staunen des Engels über das, was sich vor ihm aufstaut, versetzt diesen in einen Zustand vibrierender Spannung. Und das Bild teilt mit, dass solche Spannung erlösend sich jeden Augenblick entladen kann.
TS: Hieße das, dass die Zeichnung, Text und Traumbild als Darstellung eine Art verschlüsselter Botschaft in Form einer Heimsuchung überbringen? Mit anderen Worten: Die Zeichnung entwirft nichts, sie verhüllt erstmal und wird in einer Erkundung erschlossen werden müssen? Wohin könnte diese Traumbeute führen?
RK: Auf überraschende, zweideutige Spuren vielleicht. Zu Konfigurationen, die im Bild Klees und im Text Benjamins angelegt sind, die aber mit beiden gebildet werden, wenn beide heute aktualisiert werden, in dieser unserer Jetztzeit. Eine Analyse des Bildes des Engels der Geschichte als Traumbild wird also künftig nicht mehr die in seiner Figur auch manifest werdenden latenten Gedanken übersehen können – dass hier Musik und Tanz im Spiel sind. Beide, Musik und Tanz, charakterisieren für den jungen Benjamin (etwa in seinem Traumtext Der Ball, II 103f) eine schwebende Unruhe, sie sind Teil einer Konfiguration, der es gelingt die Zeit einzufangen, zu verdichten und zu verwandeln, in chronologischem Fortschreiten zu einem Augenblick, in dem die Gelegenheit beim Schopfe gefasst werden kann: Kairos. Was aber ist der richtige Augenblick, in dem Leid und Gewalt abgebrochen werden, Klage zu Klang wird und der Stillstand im vorwärts stürmenden Marsch des Fortschritts unterbrochen wird? Geht es Benjamin in seinen Thesen über den Begriff der Geschichte darum, die versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zu zwingen, dass man ihnen die eigene Melodie vorspielt, wie es Marx in der Zeit des Vormärz 1844 in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie fordert? Das Traumbild des Engels der Geschichte, das im Kontext der anderen Thesen über den Begriff der Geschichte steht, mutet angesichts zertrümmerter Verhältnisse der Gewaltgeschichte der rebellischen Ungeduld und der revolutionären Geduld jeder Jetztzeit viel zu. Walter Benjamin hält angesichts schneller und gewalttätiger anarchistischer, kommunistischer, sozialistischer, sozialdemokratischer Lösungen an der Möglichkeit einer Erlösung fest, die Gewaltherrschaft beendet, nicht im neuen ideologischen Gewand fortsetzt. Politische Aktivisten und ungeduldige Rebellen werden deshalb einen Vers des Gedichts aus Goethes Elegie, das den Titel Aussöhnung trägt, als arge Zumutung betrachten: Da schwebt hervor Musik mit Engelsschwingen … ein Wort, das als Zitat in Benjamins Essay über Goethes Wahlverwandtschaften auf die Spur dessen bringt, was aus Klage werden kann: nicht nur Bewegtsein eines Zuschauers, im Gefühl der Rührung, sondern Bewegung und fühlbares Miteinander.
TS: Was bedeutet Schweben in diesem Zusammenhang? Ist es ein notwendiger Gegenpol zur „rebellischen Ungeduld”, um die „versteinerten Verhältnisse” ins Wanken zu bringen?
RK: Was verbindet den Angelus Novus des Bildes von Klee, den Engel der Geschichte in Benjamins These, mit dem Angelus Suspensus, als Traumbild eines Engels, der „im Begriff steht” zu tanzen? „Im Begriff stehen” ist eine merkwürde Redewendung – zumal, wenn Wörterbücher „auf dem Sprung sein” als Synonym für sie nennen. Und doch verbinden beide Redewendungen, was das dialektische Bild des Engels der Geschichte lesbar macht: Er befindet sich in einem status suspensus, in einem Schwebezustand, zwischen Vergangenheit und Zukunft, in einem Zustand, der im Begriff steht sich als Jetztzeit zu verdichten und auf dem Sprung ist, sich in einen neuen Ursprung zu verwandeln, auf den die Unterbrechung der Gewaltgeschichte und schließlich ihr Abbruch zielt.
TS: Kann man diesen „Schwebezustand” so deuten, dass in jedem Moment das Potenzial für einen neuen Anfang liegt? Ein Angehalten-Sein zur Aus-Schöpfung? Wie lässt sich dieser „Sprung” in einen neuen Ursprung historisch verorten? Kann dieser „Schwebezustand” des Engels auch als eine Form von „inoperativity” oder „Unworking” interpretiert werden – wie es in aktuellen Theoriediskussionen verhandelt wird – als etwas, das den kontinuierlichen Fortschritt – der leeren und homogenen Zeit, wie Benjamin sie nennt – unterbricht und stattdessen „Jetztzeit” ermöglicht?
RK: Musik und Tanz kennen die Momente, in denen das Geschehen in der Schwebe gehalten wird. Im Nu baut sich dann eine Spannung auf, die zur Auflösung drängt. Das betrifft sowohl die Schwebeakkorde (etwa, wenn im Dur-Dreiklang eine kleine Sekunde an die Stelle der Terz tritt) als auch das Innehalten der Tanzbewegung. Erweisen sich der Angelus Novus Klees, der Engel der Geschichte Benjamins, als Angelus Suspensus, dann befinden sie sich im Begriff und auf dem Sprung ihren Schwebeakkord aufzulösen und mit dem Tanzen zu beginnen. Es braucht viel Geduld, wenn die Dinge in der Schwebe sind, um den richtigen Augenblick zu treffen, damit eine gute und schöne Gelegenheit, vor allem eine erlösende, beim Schopf gegriffen werden kann.
Musik und Tanz kennen das als Timing, als den Augenblick des Neueinsatzes, in dem ein Sus-Akkord oder eine Sus-Bewegung aus der Schwebe wieder in den „Gang der Dinge” wechseln. Und: Wenn bei „inoperativity” oder „unworking” die Assoziation „unwirksam machen”, „katergein”, ja, sogar das lutherische und hegelsche „Aufheben” mitschwingen … dann: ja.
TS: Ist dieser Moment des „Timing” im Tanz ein Modell für persönliche oder gar historische Transformation? Können wir sagen, dass diese „Schwebe” und ihr Auflösen eine Form von bewusster Handlung ist, die (eigene) Position innerhalb von Geschichte neu bzw. anders zu gestalten?
RK: Im zeitgenössischen Tanz zeigt Libertad Esmeralda Iocco, wie sich im Innehalten in einer getriebenen Bewegung ein unsichtbares Vibrieren mitteilt. Staute es sich unendlich auf, dann würde es den Körper zerreißen. Würde aber aus Ungeduld der richtige Augenblick verpasst, dann könnte die Geste nicht in der Schwebe bleiben. Denn diese benötigt sie, um den Rhythmus zu entfalten und zum Zuge kommen zu lassen, der Entspringen möglich macht.
TS: Zeigt sich in diesem „unsichtbaren Vibrieren” eine Form von produktiver Inaktivität, die den Körper weder ins Zerreißen noch in ständige Bewegung zwingt? Könnte man das als eine Ästhetik des Désœuvrement verstehen, die eine neue Form des Rhythmus im politischen Handeln jenseits einer Inoperativität eröffnet?
RK: Das ist ein interessanter Gedanke. Wir sollten dem vielleicht in einem weiteren kleinen Essay zum Angelus Suspensus nachgehen … In Sinne Benjamins kommt es beim Timing darauf an, in der stillgestellten Geste des Engels die „intermittierende Rhythmik” des Innehaltens zu erkennen. „Was das Trauerspiel kennzeichnet, ist also durchaus nicht Unbeweglichkeit, ja auch nur Langsamkeit des Vorgangs – »au lieu du mouvement on rencontre I’immobilite« (…) sondern die intermittierende Rhythmik eines beständigen Einhaltens, stoßweisen Umschlagens und neuen Erstarrens.” (I 373) Die Aufhebung dieser Rhythmik im Rhythmus des Tanzes zeigt nicht mehr aber auch nicht weniger als: dass es glücken kann; Entspringen, neuer Ursprung, ist möglich.
TS: Ist die Idee des „Timing” bei Benjamin mehr als nur ein ästhetisches Prinzip? Könnte sie auch als ethische Haltung verstanden werden, die das bewusste Warten auf den richtigen Moment fordert, um in die Geschichte einzugreifen?
RK: Kairos derart zu erfahren, heißt wohl: es glückt, es passt, es gelingt. Doch ist die Erfahrung solcher ponderación misteriosa, das Innewerden ihres Spiels, ihres Dramas und ihrer Aufhebung eine eher seltene Erfahrung, so selten, wie sich eine Allegorie in ein dialektisches Bild verwandelt, ein Angelus Novus in einen Angelus Suspensus, in einen Engel der Geschichte, in dem Chronos und Kairos sich in einem Jetzt verdichten, vielleicht könnte man das „Nu-Schwebe” nennen … wäre aber vielleicht dann eher Angelus Silesius als Angelus Suspensus … Es ist doch so viel leichter, den Augenblick zu verpassen, eitel zu glauben, dies könne einem nicht passieren, oder sich ins Scheitern und Verpassen zu bescheiden. Etwas zu früh nur – und noch ist Sturz, Fallen, Haltlosigkeit, Nichtgefallen, Fallengelassenwerden, Scherbengericht. Etwas zu spät nur – und schon ist Zersprungensein, Himmelstürmerei, Pass ins Aus, Zu-weit-gegangen, zu weit, übers Ziel hinausgeschossen und den Ursprung verpasst. Im Nu ist dann das Glücken vergangen.
TS: Ist das „Glücken” vielleicht ein seltenes Erleben ästhetischer Passivität, das uns aufzeigt, wie wichtig der richtige Moment des Innehaltens ist? Zeigt uns das Verpassen dieses Moments die Grenzen und Möglichkeiten sowohl der Passivität als auch der Aktivität auf?
RK: Die Frage reizt natürlich, die Frage nach dem Geschlecht der Engel zu stellen, die Frage nach einem Sowohl-Als-Auch von Aktivität und Passivität, aber auch die Vorstellung von Engeln als Neutren, als Weder-noch in Frage zu stellen … aber auch das ist eine weitere Spur. Zum Glücken und Missglücken: Nach Walter Benjamin gibt es trotz (oder wegen) alledem noch das Staunen. Er, der die große Nähe zwischen epischem Theater und den Mysterienspielen aller Zeiten wahrnahm, sah in scheinbar bedeutsamen Gesten einen status suspensus. Diesen zu erleben ist seiner Meinung nach ein Geschenk – aber auch etwas, was gelernt werden kann.
TS: Kann das „Staunen” als erlernbare Fähigkeit gesehen werden, die uns für die Bedeutung der ästhetischen Passivität öffnet? Ermöglicht uns das Staunen, jenseits der Logik der Produktivität zu denken und zu handeln?
RK: Vielleicht ist hier Skepsis angebracht. Denn mit einem Geschenk ist es ja immer so eine Sache. Zumal wenn seine Geste in der Schwebe bleibt. „Die Stauung im realen Lebensfluß”, schreibt Benjamin am Ende seines Textes über das epische Theater Brechts, „der Augenblick, da sein Ablauf zum Stehen kommt, macht sich als Rückflut fühlbar: Das Staunen ist die Rückflut. Die Dialektik im Stillstand ist sein eigentlicher Gegenstand. Es ist der Fels, von dem herab der Blick in jenen Strom der Dinge sich senkt, von dem sie in der Stadt Jehoo, „die immer voll ist, und wo niemand bleibt”, ein Lied wissen, welches anfängt mit:
„Beharre nicht auf der Welle,
Die sich an deinem Fuß bricht, solange er
Im Wasser steht, werden sich
Neue Wellen an ihm brechen.”
Wenn aber der Strom der Dinge an diesem Fels des Staunens sich bricht, so ist kein Unterschied zwischen einem Menschenleben und einem Wort. Beide sind im epischen Theater nur der Kamm der Welle. Er läßt das Dasein aus dem Bett der Zeit hoch aufsprühen und schillernd einen Nu im Leeren stehen, um es neu zu betten.” Zu ergänzen wäre lediglich: In einer anderen Zeit. In einer Zeit, in der weder das proletarische Kindertheater noch das epische Theater noch Gesten hervorbringen, die, wie Benjamin schreibt, das geheime Signal des Kommenden zeigen … dazu bedarf es anderer Spielräume, als sie das Theater heute in der Regel bieten kann.
Robert Krokowski
Tom Sojer